Wahrnehmungsdifferenzen: 15.11.2022, Wiesbaden

15. November 2022, 19 Uhr, Kesselhaus, Schlachthof Wiesbaden

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wird nicht nur in Deutschland als eine Zäsur wahrgenommen und erschütterte Menschen auf der ganzen Welt. Die Solidarität mit der Ukraine und Geflüchteten aus der Ukraine ist groß, insbesondere auch in den jüdischen Communities und Gemeinden. Jüdinnen und Juden in Deutschland sind von den Entwicklungen häufig ganz unmittelbar betroffen, da rund 45 % ukrainische Wurzeln und bis heute Familienangehörige in der Ukraine haben. Einige Shoah-Überlebende und ihre Nachfahren in der Ukraine und Deutschland berichteten, dass der Angriffskrieg an die Geschichte geknüpfte Erinnerungen und Gefühle wach rief. Welche Auswirkungen hat der Angriffskrieg für Jüdinnen und Juden in Deutschland? Vor welchen Herausforderungen und Aufgaben sehen sich die jüdischen Gemeinden gestellt? Welche Bedeutung nimmt die Geschichte des Nationalsozialismus in den aktuellen Erfahrungen ein?
Es diskutierten: Steve Landau (Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden), Ilya Daboosh (Leiter des Sozialreferats der ZWST) und es moderierte Dr. Susanne Urban (RIAS Hessen).
Die Leistungen der jüdischen Gemeinden und Einrichtungen in Deutschland sind unglaublich groß; es wurden Busse mit Geflüchteten aus der Ukraine abgeholt, sie werden in die Gemeinden aufgenommen, es werden Freizeiten, Sprachkurse, Integrationskurse organisiert. Auch kümmern sich die jüdischen Gemeinden mit Unterstützung der ZWST um psychosoziale Betreuung und begleiten die Menschen auf Behördengänge und bei der Wohnungssuche. Über die normale Arbeitszeit hinaus engagieren sich die Menschen aus den jüdischen Gemeinden und Einrichtungen und stehen dann manches Mal fassungslos vor behördlichen Aussagen zu Öffnungs- und Sprechzeiten. Anerkennung, so waren sich Landau und Daboosh einig, erwarte man von der Mehrheitsgesellschaft nicht. Man kümmere sich selbst und sei dadurch effizienter. Vielleicht, so Landau, versuche man erst etwas aus und institutionalisiere anschließend, aber die Geschichte der Juden zeige, dass man immer improvisieren müsse und auch scheitern nicht schlimm sei, solange man einander helfen könne. Auch nicht jüdische Angehörige jüdischer Geflüchteter würden selbstverständlich mit betreut. Die Leistungen der Gemeinden und der ZWST sind, wie im Zuge der Einwanderungswelle ab den 1990ern, gleich stark und ziele auf den Menschen, nicht auf Bürokratie, ab. Schwer sei die Unterbringung von Shoah-Überlebenden, wenn die jüdischen Altersheime belegt seien und man nicht wisse, wer neben den Shoah-Überlebenden sitze in einem deutschen Heim. Man kenne, so Daboosh und Landau, auch schon Erfolgsgeschichten von jungen Leuten, die vor acht Monaten kamen und nun eine Arbeit und eine Wohnung haben. Ein einhelliges Fazit: jüdische Gemeinden und Institutionen können mit Krisen umgehen. Menschlich aber bleibe Entsetzen über den Angriffskrieg und was die Menschen in der Ukraine mitmachen und erleiden.

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