Jahresbericht RIAS Hessen
Die Grundlagen
Arbeitsweise, Kategoriensystem
(Vorfallarten, Erscheinungsformen, Tathintergründe)
und die Datengrundlage
Inhalt
Datengrundlage
Antisemitische Vorfälle werden von RIAS Hessen im engen Austausch mit den meldenden Personen bzw. Einrichtungen verifiziert und anschließend systematisch dokumentiert. Dieses Verfahren ermöglicht es, Aussagen über Erscheinungsformen, Vorkommen und Veränderungen von antisemitischen Vorfällen in Hessen zu treffen und Tendenzen daraus abzuleiten.
RIAS Hessen dokumentiert antisemitische Vorfälle unabhängig davon, ob sie strafrechtlich relevant sind oder keine justiziablen Tatbestände erfüllen.
RIAS Hessen verweist in vielen Fällen die von Antisemitismus betroffenen Personen oder Institutionen zur weiteren Begleitung an die Fachberatungsstelle OFEK e.V.OFEK e.V. ist die erste Fachberatungsstelle in Deutschland, die auf Antisemitismus und Community-basierte Betroffenenberatung spezialisiert ist. OFEK berät, begleitet und unterstützt Betroffene, ihre Angehörigen sowie Zeug:innen antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten. OFEK steht parteiisch an der Seite der Ratsuchenden und bringt jüdische Perspektiven in die gesellschaftliche und politische Debatte ein. (www.ofek-beratung.de)
Das Kategoriensystem, nach dem RIAS Hessen antisemitische Vorfälle erfasst, wurde in der Bundesarbeitsgemeinschaft der RIAS-Stellen (BAG) festgelegt und wird von allen in der BAG organisierten RIAS-Meldestellen gleichermaßen angewendet und gemeinsam weiterentwickelt.
Im Folgenden werden zentrale Kategorien und Grundsätze der Arbeitsweise von RIAS Hessen zur besseren Nachvollziehbarkeit vorgestellt. Die Einordnung antisemitischer Vorfälle orientiert sich an der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus (letzter Zugriff: 9.1.2025). Diese wurde von RIAS Berlin gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen für den deutschsprachigen Kontext spezifiziert und operationalisiert und in dieser Form auch von RIAS Hessen übernommen. Zudem orientiert sich RIAS Hessen an der „Arbeitsdefinition zur Leugnung und Verharmlosung des Holocaust“, die 2013 von der IHRA veröffentlich wurde.https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-leugnung-verfalschung-des-holocaust (letzter Zugriff: 9.1.2025).
RIAS Hessen ordnet antisemitische Vorfälle verschiedenen Kategorien zu. Das Kategoriensystem und die verwendeten Begriffe unterscheiden sich von den Kategorien und Begriffsdefinitionen der Strafverfolgungsbehörden. Die von RIAS Hessen genutzten Vorfallkategorien wurden vom britischen Community Security Trust (CST) übernommenhttps://cst.org.uk/public/data/file/f/2/Categories%20of%20antisemitic%20incidents.pdf (letzter Zugriff: 9.1.2025) und von RIAS Berlin für den deutschen Kontext angepasst. So wurde bspw. die Kategorie der Sachbeschädigung um Vorfälle an Orten der Erinnerung an die Shoah erweitert, um das Phänomen der Erinnerungsabwehr zu berücksichtigen. In der BAG stehen die Meldestellen im stetigen Austausch über die Auswertungsmethoden und arbeiten gemeinsam an der Weiterentwicklung der Kategorien und deren Anwendung. Durch diese Struktur verwenden alle der BAG angegliederten Stellen, so auch RIAS Hessen, dieselben Kategorien. Damit werden untereinander Transparenz und Vergleichbarkeit hergestellt. Die Erfahrungswerte des CST und der nunmehr seit 2015 nach und nach aufgebauten RIAS-Stellen ergeben, dass eine Meldestelle erst etwa nach fünf Jahren eine ausreichende Bekanntheit und das notwendige
Vertrauensverhältnis zur jüdischen Community erlangt hat, um einen repräsentativen Überblick zur Dimension des Antisemitismus erzielen zu können.
Vorfallarten
Extreme Gewalt
Als extreme Gewalt gelten (versuchte) und ausgeführte physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder schwere Körperverletzungen darstellen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Brandanschläge, Kidnapping, Messerangriffe und Schüsse.
Physischer Angriff
Als Angriffe werden Vorfälle gewertet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. Hierzu gehört bspw. das Werfen von Gegenständen. Aufgenommen werden auch versuchte körperliche Angriffe, denen sich Menschen durch Gegenwehr oder Flucht entziehen können.
Gezielte Sachbeschädigung
Als gezielte Sachbeschädigung wird die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums mit antisemitischen Symbolen, Plakaten oder Aufklebern verstanden. Auch werden Beschädigungen oder Beschmutzungen von Orten der Erinnerung an die Shoah, also Stolpersteine und Gedenktafeln, sowie mit ihnen verbundene Institutionen als gezielte Sachbeschädigungen dokumentiert.
Bedrohung
Als Bedrohung gilt jegliche schriftliche oder mündliche eindeutige Androhung von Gewalt, die an eine konkrete Person oder Institution oder gegen konkrete Sachen (wie ein Denkmal) adressiert wird. Bedrohungen, die sich nicht gegen eine konkrete Person oder Institution richten, werden nicht in dieser Kategorie verzeichnet.
Verletzendes Verhalten
Als verletzendes Verhalten werden sämtliche antisemitischen Vorfälle gegen jüdische wie nichtjüdische Personen oder Institutionen kategorisiert, wenn diese gezielt, böswillig und diskriminierend adressiert werden. Dies schließt auch antisemitische Äußerungen und Inhalte im digitalen Raum ein, sofern diese direkt an eine Person oder Institution adressiert sind.1 Unter diese Kategorie fallen auch antisemitisch motivierte Sticker oder Schmierereien an nichtjüdischem oder israelischem Eigentum sowie Schmierereien, Aufkleber etc. im öffentlichen Raum. Als verletzendes Verhalten gelten auch verbale oder über Schilder, Transparente und Flyer etc. verbreitete antisemitische Äußerungen während Versammlungen, Infoständen usw.2 Ankündigungen von Veranstaltungen, die bereits antisemitische Inhalte verbreiten, zählen ebenfalls als verletzendes Verhalten.
- Allgemeine antisemitische Kommentare in den sozialen Medien oder in Online-Medien werden nicht aufgenommen.
- Versammlungen wie Demonstrationen oder Kundgebungen werden, auch wenn mehrere antisemitische Plakate gezeigt oder Parolen gerufen werden, als ein Vorfall aufgenommen.
Massenzuschriften
Als Massenzuschriften werden antisemitische Zuschriften, die sich an einen Kreis ab mindestens zwei Personen oder Einrichtungen richten, dokumentiert.
Erscheinungsformen des Antisemitismus
Antijudaismus
Im antijudaistischen Antisemitismus werden religiös begründete Stereotype und Mythen artikuliert.
weiterlesenAntisemitisches Othering
Das Antisemitisches Othering bezeichnet Handlungen, Worte oder Bilder, deren Inhalt Jüdinnen und Juden als fremd, exotisch oder als nicht dazugehörend markieren.
weiterlesenIsraelbezogener Antisemitismus
Antisemitische Einstellungen werden auch auf den Staat Israel projiziert. Sobald sich Äußerungen zu der Politik Israels mit Ideologemen des Antisemitismus verbinden, sind sie der genannten Erscheinungsform zuzurechnen.
weiterlesenModerner Antisemitismus
Dem modernen Antisemitismus werden verschwörungstheoretische Zuschreibungen etwa von einer besonderen ökonomischen oder politischen Macht von Jüdinnen und Juden zugeordnet.
weiterlesenPost-Shoah-Antisemitismus
Der Post-Shoah-Antisemitismus ist ein Phänomen, bei dem Schuld- und Erinnerungsabwehrmechanismen eingesetzt werden, um die während der Shoah begangenen Verbrechen zu verharmlosen, zu relativieren oder zu leugnen.
weiterlesenPolitisch-weltanschauliche Tathintergründe
RIAS Hessen klassifiziert, sofern möglich, den politisch-weltanschaulichen Hintergrund der Verantwortlichen für einen antisemitischen Vorfall, soweit ausreichend Informationen hierzu vorliegen. Die Zuordnung ergibt sich aus der Selbstbezeichnung der Personen oder Organisationen oder aus dem Kontext der antisemitischen Äußerung bzw. des antisemitischen Vorfalls, woraus sich die Verortung zu einem bestimmten politischen Spektrum eindeutig ableiten lässt. Häufig können antisemitische Vorfälle auf Grundlage der Informationslage jedoch keinem politisch-weltanschaulichen Hintergrund eindeutig zugeordnet werden. Dies liegt auch in der Brückenfunktion des Antisemitismus begründet.
Bei RIAS werden sieben politische Spektren unterschieden.
Als rechtsextrem/rechtspopulistisch werden antisemitische Vorfälle erfasst, die mit dem rechtsextremen oder dem rechtspopulistischen Spektrum verbunden sind. Dabei fungiert Rechtsextremismus als Sammelbegriff für antimoderne, antidemokratische, antipluralistische und menschenrechtswidrige Einstellungen, Handlungen und Strömungen. Zu den gemeinsamen Merkmalen verschiedener rechtsextremer Ideologien gehören Ideen, die von einer grundlegenden, oft biologistisch basierten, Ungleichwertigkeit verschiedener Menschen oder Gruppen ausgehen. Diese Ideologie ist verbunden mit dem Wunsch, in ethnisch homogenen Gemeinschaften zu leben, sowie der Unterordnung des Einzelnen unter diese Gemeinschaft. Rechtspopulismus umfasst gemäßigtere Formen des Rechtsextremismus. Diese politische Ideologie bedient sich zumeist kulturell-religiöser und wirtschaftlicher Rechtfertigungen und ist im Gegensatz zum Rechtsextremismus nicht für die vollständige Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Vielmehr wird versucht oder soll versucht werden, sie mithilfe demokratischer Gegebenheiten autoritär zu unterwandern und schließlich umzugestalten. Darüber hinaus ist Rechtspopulismus auch eine spezifische Form der politischen Kommunikation und Mobilisierung, die eine scharfe Abgrenzung von den „politischen Eliten“ für sich betont. Bei antisemitischen Vorfällen in diesem Spektrum sind die Unterschiede zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus auf der Ebene der Akteurinnen und Akteure sowie bei den ihnen eingesetzten antisemitischen Stereotype schwer auszumachen. In Deutschland sind auch rechtsextreme Strömungen aus anderen Ländern festzustellen, wie z.B. die „Grauen Wölfe“.
Als links oder antiimperialistisch werden antisemitische Vorfälle dokumentiert, die mit dem Vertreten linker Ideologien oder der Selbstverortung der Personen oder Gruppen in einer linken Tradition einhergehen. Diese Ideologien sind verbunden mit einer binären Weltsicht und verschmelzen häufig mit einer befreiungsnationalistischen oder auch ideologisch postkolonial gefärbten, antiimperialistischen Kritik.
Antisemitische Vorfälle werden als christlich oder christlich-fundamentalistisch eingeordnet, wenn antisemitische Topoi mit einer positiven Bezugnahme auf christliche (oder christlich fundamentalistische) Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und sofern kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Als islamisch oder islamistisch werden antisemitische Vorfälle registriert, die mit einer positiven Bezugnahme auf islamische Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert. Dies umfasst unterschiedliche Verständnisse vom Islam, darunter auch islamistische.
Antisemitische Vorfälle werden als verschwörungsideologisch kategorisiert, wenn die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Vordergrund steht. Diese Personen und Gruppen können im herkömmlichen politischen Spektrum mitunter nicht eindeutig verortet werden und sind in verschiedenen Milieus zu finden.
Für den antiisraelischen Aktivismus gilt, dass sich die Akteurinnen und Akteure mitunter nicht eindeutig politisch zuordnen lassen und die israelfeindliche Motivation der verantwortlichen Personen oder Gruppen im Vordergrund steht, während die politische Positionierung im linken, rechten oder islamistischen Milieu nachrangig ist. Zum antiisraelischen Aktivismus zählen unter anderen säkulare palästinensische Gruppen sowie jene, die antisemitische Boykottkampagnen gegen den jüdischen Staat Israel unterstützen bzw. propagieren.
Der politischen Mitte zugeordnet werden antisemitische Vorfälle, wenn keiner der zuvor genannten politisch-weltanschaulichen Hintergründe zutrifft und gleichzeitig die Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, demokratische Positionen zu vertreten.
Datengrundlage
Die meisten der 2024 von RIAS Hessen dokumentierten 926 antisemitischen Vorfälle gingen über das Meldeformuler unter www.report-antisemitism.de oder per E-Mail an info@rias-hessen.de ein. Vereinzelt riefen Personen, die Antisemitismus erfahren oder gesehen hatten, direkt an.
RIAS Hessen konnte das Monitoring von Veranstaltungen 2024 breiter aufstellen als bisher und somit auch dort antisemitische Vorfälle verstärkt erfassen. Das Monitoring auf Social Media mit Blick auf die nach RIAS-Kriterien zu dokumentierenden Vorfällen wurde ebenfalls intensiviert. Wichtig war für 2024 die institutionalisierte Form des Datenabgleichs mit Kooperationspartnern wie mit OFEK Hessen e.V., aber auch mit response. oder dem Jüdischen Museum Frankfurt. Der bereits 2023 begonnene Abgleich mit dem Hessischen Landeskriminalamt und dem Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen war überaus wertvoll und trägt ebenfalls zu einem breiteren Lagebild bei. Darüber hinaus gab es anlassbezogene Gespräche mit jüdischen und nichtjüdischen Organisationen, um Vorfälle zeitnah gemeldet zu bekommen.
RIAS Hessen ist für die Erhebung und Dokumentation der Daten auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit und den Austausch mit Jüdischen Gemeinden und Institutionen angewiesen. RIAS Hessen geht weiterhin von einer hohen Anzahl nicht gemeldeter antisemitischer Vorfälle aus. Diese Annahme beruht auf Gesprächen, Erkenntnissen über den Umgang mit solchen Erfahrungen und dem Wissen, dass vieles, was im Alltag geschieht, überhört und übersehen wird.