Jahresbericht RIAS Hessen
Begrifflicher Rahmen und Kategoriensystem
Die von den RIAS-Stellen verwendeten Vorfallkategorien wurden vom britischen Community Security Trust (CST) übernommen und von RIAS Berlin für den deutschen Kontext angepasst. Als Teil der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) RIAS nutzen bundesweit alle regionalen Meldestellen, so auch RIAS Hessen, dieselben Kategorien, um Transparenz und Vergleichbarkeit untereinander zu gewährleisten.
RIAS Hessen erlangte 2022 auf unterschiedliche Arten Kenntnis von antisemitischen Vorfällen im Bundesland. Primär sind die 2022 dokumentierten antisemitischen Vorfälle über die mehrsprachige Meldeseite www.report-antisemitism.de oder via Mail an vasb@evnf-urffra.qr mitgeteilt worden. Zudem konnten einige Vorfälle telefonisch erfasst werden. Außerdem erlangt RIAS Hessen Informationen über antisemitische Vorfälle über institutionalisierte Formen der Übermittlung mit Kooperationspartner:innen, wie etwa von der Beratungs- und Interventionsstelle für Betroffene von Antisemitismus Hessen, OFEK e.V. oder der Beratungsstelle für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, response. Dazu kommen anlassbezogene Gespräche mit jüdischen und nicht-jüdischen Organisationen und Presseberichte. Darüber hinaus konnte RIAS Hessen bereits mit projekteigenem Monitoring von Medien und Veranstaltungen antisemitische Vorfälle erfassen. RIAS Hessen geht jedoch weiterhin von einem hohen Dunkelfeld nicht gemeldeter und folglich nicht dokumentierter antisemitischer Vorfälle aus.
RIAS Hessen dokumentiert antisemitische Vorfälle unabhängig von ihrer strafrechtlichen Relevanz oder Schwere. Zudem arbeitet die Anlaufstelle betroffenenorientiert und parteiisch. Nachdem sich Betroffene, Freund:innen, Bekannte oder Zeug:innen aufgrund eines antisemitischen Vorfalls melden, nehmen Mitarbeiter:innen zeitnah Kontakt mit der ratsuchenden Person auf, um verweisend zu beraten und den jeweiligen Vorfall einzuordnen.
Datengrundlage
Antisemitische Vorfälle sind definiert als Handlungen oder an Einzelpersonen oder öffentliche Institutionen adressierte sprachliche und symbolische Äußerungen, die wissentlich oder unwissentlich antisemitische Überzeugung oder Narrative zum Ausdruck bringen oder ersichtlich durch diese motiviert sind. Der Verifizierungsprozess eines Vorfalls kann auch dazu führen, dass mutmaßlich antisemitische Phänomene aus operativen Gründen nicht in die Dokumentation aufgenommen werden können, bspw. wenn es sich um Rechtsextremismus ohne spezifischen antisemitischen Bezug handelt.
Die Systematisierung der erhobenen Daten erfolgt auf Grundlage des gemeinsamen Kategoriensystems der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus. Dieses Kategoriensystem ermöglicht eine einheitliche Erfassung und Kategorisierung von antisemitischen Vorfällen in den unterschiedlichen Stellen bundesweit. Ein bundesweit einheitliches Erfassungssystem ermöglicht grundsätzlich eine Vergleichbarkeit der Daten aus verschiedenen Bundesländern. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die verschiedenen regionalen Meldestellen aufgrund der jeweiligen personellen und finanziellen Ressourcen über unterschiedliche Kapazitäten für Recherchen verfügen und je nach Projektlaufzeit bis dato ein unterschiedliches Maß an Bekanntheit unter potenziell Ratsuchenden generiert wurde.
Neben der zahlenmäßigen Erfassung und Zuordnung der Fälle zu den verschiedenen Vorfallarten werden die dokumentierten Vorfälle im Rahmen einer inhaltlichen Auswertung den verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus zugeordnet und spezifische Problemfelder eruiert. Dadurch soll in den kommenden Jahren ein immer umfassenderes Bild des Antisemitismus in Hessen entstehen.
Kategoriensystem
Erscheinungsformen des Antisemitismus
In der fachlichen Auswertung der dokumentierten Vorfälle differenziert RIAS Hessen fünf verschiedene Erscheinungsformen von Antisemitismus. Dabei ist zu beachten, dass diese Kategorien lediglich idealtypisch sind und es sich bei den Vorfällen oft um eine Kombination aus mehreren Formen von Antisemitismus handelt. In verbalen Anfeindungen können Täter:innen beispielsweise gleichzeitig moderne antisemitische als auch antijudaistische Ausdrücke verwenden. Infolgedessen ist die Gesamtzahl der erfassten Vorfälle geringer als die Gesamtsumme der Vorkommnisse der einzelnen Erscheinungsformen.
Antijudaismus
Antijudaismus ist im Gegensatz zum modernen Antisemitismus in erster Linie religiös motiviert und äußert sich in abwertenden Zuschreibungen gegenüber der jüdischen Religion.
weiterlesenModerner Antisemitismus
Der moderne Antisemitismus entstand im späten 18. Jahrhundert und ist historisch mit etablierten antijüdischen Vorurteilsstrukturen verbunden. Er hat sich jedoch zu einer Ideologie entwickelt, die nicht mehr nur auf der Religion beruht.
weiterlesenAntisemitisches Othering
Antisemitisches Othering bezieht sich auf den Akt, Jüdinnen:Juden durch Handlungen, Worte und Bilder als fremd oder anders zu klassifizieren.
weiterlesenPost-Shoah-Antisemitismus
Der Post-Shoah-Antisemitismus ist ein Phänomen, bei dem Schuld- und Erinnerungsabwehrmechanismen eingesetzt werden, um die während der Shoah begangenen Verbrechen zu verharmlosen, zu relativieren oder zu leugnen.
weiterlesenIsraelbezogener Antisemitismus
Antisemitische Einstellungen können auch auf den Staat Israel projiziert werden. Sobald sich Äußerungen zu der Politik Israels mit Ideologemen des Antisemitismus verbinden, sind sie der genannten Erscheinungsform zuzurechnen.
weiterlesenVorfallarten
Um ein möglichst genaues Bild zu zeichnen, wird die häufig verwendete Kategorie verletzendes Verhalten in Diskriminierung, Versammlungen und sonstige antisemitische Vorfälle, die verletzendes Verhalten kennzeichnen, unterschieden.
RIAS Hessen differenziert gemäß des Kategoriensystems der BAG sechs Oberkategorien zwischen verschiedenen Vorfallarten:
Extreme Gewalt
Als extreme Gewalt gelten (versuchte) physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben (können) oder schwere Körperverletzungen darstellen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise auch Fälle von Kidnapping, Messerangriffe oder Schüsse.
Angriffe
Als Angriffe werden Vorfälle gewertet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht.
Gezielte Sachbeschädigung
Unter einer gezielten Sachbeschädigung wird die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums mit antisemitischen Symbolen, Plakaten oder Aufklebern verstanden. Zudem werden hierzu auch Beschädigungen oder Beschmutzungen von Erinnerungszeichen und -orten (z.B. Stolpersteine und Gedenktafeln) oder mit ihnen verbundenen Institutionen gezählt.
Bedrohung
Als Bedrohung gilt jegliche eindeutige und direkt an eine Person oder Institution adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalt.
Massenzuschriften
Als Massenzuschriften werden antisemitische Zuschriften, die sich an einen größeren Kreis von Personen richten, dokumentiert.
Verletzendes Verhalten
Verletzendes Verhalten umfasst antisemitische Vorfälle ohne explizite Gewaltandrohung. Dies kann konkrete Einzelpersonen, aber auch die Öffentlichkeit adressieren. Dazu zählen antisemitische Äußerungen gegenüber jüdischen wie nichtjüdischen Personen oder Institutionen, wie etwa antisemitische Beschimpfungen. Ebenso können dies Äußerungen auf Demonstrationen und Schmierereien im öffentlichen Raum sein, aber auch Beschädigungen oder das Beschmieren nichtjüdischen Eigentums durch antisemitische Symbole, Plakate, Aufkleber usw.
Politisch-weltanschauliche Tathintergründe
RIAS Hessen ordnet den politisch-weltanschaulichen Hintergrund eines antisemitischen Vorfalls oder der dafür Verantwortlichen ein, soweit ausreichend Informationen hierzu vorliegen. Somit erfolgt dies nur, wenn sich aus der Selbstbezeichnung der Täter:innen oder aus den antisemitischen Stereotypen, die verwendet wurden, eine Zuordnung eindeutig ableiten lässt. Immer wieder können antisemitische Vorfälle aufgrund fehlender oder unzureichender Informationen nicht nach politisch-weltanschaulichem Hintergrund klassifiziert werden, beispielsweise bei der Beschädigung eines Denkmals an die Shoah oder einem politisch nicht eindeutig klassifizierbaren Schreiben an eine jüdische Gemeinde.
Insgesamt werden sieben politisch-weltanschauliche Hintergründe differenziert und pro Vorfall ist jeweils ausschließlich eine Einordnung möglich.
So können antisemitische Vorfälle als rechtsextrem oder rechtspopulistisch aufgenommen werden. Dabei fungiert Rechtsextremismus als Sammelbegriff für antimoderne, antidemokratische, antipluralistische und menschenrechtswidrige Einstellungen, Handlungen und Strömungen. Zu den gemeinsamen Merkmalen verschiedener rechtsextremer Ideologien gehören Ideen, die von einer grundlegenden Ungleichwertigkeit verschiedener Menschen oder Gruppen ausgehen, verbunden mit dem Streben, in ethnisch homogenen Gemeinschaften zu leben und der Unterordnung des Individuums unter diese Gemeinschaft.
Rechtspopulismus fungiert als Sammelbegriff für abgemilderte und modernisierte Varianten des Rechtsextremismus. Rechtspopulismus bedient sich hierfür kulturell-religiöser und wirtschaftlicher Rechtfertigungen und ist im Vergleich mit dem Rechtsextremismus nicht für die vollständige Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Vielmehr wird versucht, die Demokratie auf autoritäre Weise umzugestalten und zu unterwandern. Darüber hinaus ist der Rechtspopulismus auch eine spezifische Form der politischen Kommunikation und Mobilisierung, die für sich eine klare Abgrenzung von „politischen Eliten“ betont.
Unter der Einordnung als links/antiimperialistisch werden antisemitische Vorfälle dokumentiert, die mit dem Vertreten linker Werte oder der Selbstverortung der Personen oder Gruppen in einer linken Tradition sowie mit einer binären Weltsicht und einer – häufig befreiungsnationalistischen – Imperialismuskritik einhergehen.
Antisemitische Vorfälle werden als christlich oder christlich fundamentalistisch eingeordnet, wenn sie mit einer positiven Bezugnahme auf christliche bzw. christlich fundamentalistische Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Als islamisch oder islamistisch werden antisemitische Vorfälle registriert, die mit einer positiven Bezugnahme auf islamische Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert. Dies bezieht sich auf unterschiedliche Islamverständnisse, darunter auch islamistische.
Antisemitische Vorfälle gelten als verschwörungsideologisch, wenn die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Vordergrund steht und kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Für den antiisraelischen Aktivismus gilt, dass sich die Akteur:innen mitunter nicht eindeutig politisch zuordnen lassen und die israelfeindliche Motivation der verantwortlichen Personen oder Gruppen eindeutig dominiert. Zum antiisraelischen Aktivismus zählen RIAS-Stellen beispielsweise säkulare palästinensische Gruppen sowie Aktivist:innen, die antisemitische Boykottkampagnen gegen den jüdischen Staat Israel unterstützen.
Der politischen Mitte zugeordnet werden antisemitische Vorfälle, wenn keiner der zuvor genannten politisch-weltanschaulichen Hintergründe zutrifft und gleichzeitig die Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, demokratische Positionen zu vertreten.