Jahresbericht RIAS Hessen

Antisemitische Vorfälle
in Hessen 2022

Einführung

 

Im Kalenderjahr 2022 nahm die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) ihre Arbeit auf und begann ab März, selbst Meldungen zu antisemitischen Vorfällen entgegenzunehmen. Die vor März beim Bundesverband RIAS e.V. eingegangenen Vorfälle sind in den Jahresbericht integriert worden, sodass ein erstes Bild für das Gesamtjahr 2022 entstehen konnte.

Nach Grußworten und einer Darstellung der Struktur von RIAS Hessen stellt der Bericht zunächst die Arbeitsweise der RIAS-Stellen und damit auch von RIAS Hessen vor. Anschließend folgt die zahlenmäßige Beschreibung der Meldungen antisemitischer Vorfälle, verbunden mit der grafischen Aufbereitung und Darstellung ausgewählter Fallbeispiele.

Zum Abschluss des Jahresberichts thematisieren zwei Fokuskapitel besonders relevante Problemfelder des Jahres 2022: antisemitische Vorfälle an Bildungseinrichtungen und Antisemitismus im Zusammenhang mit der documenta fifteen in Kassel.

Insgesamt hat RIAS Hessen 179 antisemitische Vorfälle zwischen dem 1. Januar 2022 und dem 31. Dezember 2022 dokumentiert, also ist etwa jeden zweiten Tag im Jahr ein antisemitischer Vorfall gemeldet worden.Während der Drucklegung des Bundesverbandes RIAS e.V. wurden zwei Fälle in Hessen aus dem Jahr 2022 nacherfasst, weshalb diese Differenz zum Jahresbericht des Bundesverbandes RIAS entstanden ist.

RIAS Hessen geht von einem weitaus größeren Dunkelfeld aus. Basis dieser Annahme sind persönliche Gespräche mit der jüdischen Community, Einblicke in den Umgang mit antisemitischen Vorfällen und die Erfahrung der bereits länger tätigen RIAS-Stellen.

Im Folgenden werden die Fälle näher analysiert und eingeordnet.Ein Abgleich der bei RIAS Hessen erfassten Vorfallszahlen mit den bei den Strafverfolgungsbehörden registrierten antisemitischen Straftaten war für 2022 noch nicht möglich, wird aber für das Jahr 2023 anonymisiert und datenschutzkonform erfolgen.

Zusammenfassung

Im Jahr 2022 dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen 179 antisemitische Vorfälle.

Unter diesen Fällen war einer von extremer Gewalt. In drei weiteren Vorfällen kam es ebenfalls zu Angriffen und in zehn Fällen zu einer Bedrohung. Es wurden zudem zwölf gezielte Sachbeschädigungen erfasst. Bei 146 antisemitischen Vorfällen wurde verletzendes Verhalten registriert; darunter waren 23 Versammlungen und drei Fälle von antisemitischer Diskriminierung. Darüber hinaus wurden sieben Massenzuschriften dokumentiert.

Insgesamt erfasste RIAS Hessen im vergangenen Jahr 78 individuell Betroffene, 43 hiervon wurden als jüdisch adressiert. Es gab 25 betroffene Institutionen, bei denen in elf Fällen eine jüdische Institution Ziel des Antisemitismus war. In 72 der erfassten antisemitischen Vorfälle waren keine Personen oder Institutionen direkt betroffen.

RIAS Hessen dokumentierte 2022 besonders häufig Vorfälle, die antisemitisches Othering einschlossen, insgesamt 71 Mal. Bei 63 Vorfällen handelte es sich zudem um Post-Shoah-Antisemitismus und in 59 Fällen gingen antisemitische Vorfälle mit israelbezogenen Antisemitismus einher. In 47 Vorfällen kam es zu modernem und in sieben Fällen zu antijudaistischem Antisemitismus.

Dass israelbezogener Antisemitismus vor allem in Großstädten dokumentiert werden konnten, wie in Frankfurt am Main und Kassel, hängt vermutlich auch mit dem dortigen Bekanntheitsgrad von RIAS Hessen zusammen. Zudem entstand in Kassel durch die Werke und die Debatten auf der documenta fifteen im Sommer 2022 eine Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus. Zudem ist die Mobilisierung israelfeindlicher Strukturen in Frankfurt auffallend. Ein Beispiel hierfür ist, dass die Organisator:innen des Al-Quds-Tags, als sie diesen nicht in Berlin veranstalten konnten, nach Frankfurt mobilisierten.

In einem Großteil aller dokumentierten antisemitischen Vorfälle aus dem Jahr 2022, in 103 von 179 Fällen, ist der politisch-weltanschauliche Hintergrund ungeklärt. In 76 Vorfällen war dieser eindeutig zuzuordnen. Besonders häufig kam es zu antiisraelischem Aktivismus (24 Vorfälle), in 20 Vorfällen war ein verschwörungsideologischer Hintergrund maßgebend. 15 der erfassten Vorfälle kamen aus dem rechtsextremen oder rechtspopulistischen Spektrum. In zehn Vorfällen waren linke und antiimperialistische Hintergründe maßgeblich, in sechs kam es zu antisemitischen Vorfällen aus der politischen Mitte und es konnte ein Vorfall mit eindeutig islamischen/islamistischen Hintergrund erfasst werden.

Die Mehrzahl der antisemitischen Vorfälle ging von Einzelpersonen aus, dies war 50 Mal der Fall. Oft kam es auch zu antisemitischen Vorfällen aus gemischtgeschlechtlichen Gruppen (29 Mal). In 15 antisemitischen Vorfällen waren männliche Gruppen die Verantwortlichen, 13 Mal kam es zu antisemitischen Vorfällen von Täterinnen als Einzelpersonen.

Am häufigsten kam es auf der Straße zu antisemitischen Vorfällen; dies war 34 Mal der Fall. 29 Mal kam es zu antisemitischen Vorfällen in Bildungseinrichtungen. Zudem konnten jeweils 23 Vorfälle in öffentlichen Grünanlagen oder im Internet dokumentiert werden. Zudem ist das direkte Wohnumfeld in 16 antisemitischen Vorfällen der Betroffenen zum Tatort geworden.

Es zeigt sich, dass im Jahr 2022 in Hessen rechnerisch an jedem zweiten Tag ein antisemitischer Vorfall dokumentiert wurde. Dabei traf der Antisemitismus mehr als zwei Mal im Monat eine Institution und mehr als drei Mal so häufig Einzelpersonen. Dabei kam es im Schnitt monatlich zu gezielter Sachbeschädigung, fast genauso häufig haben Betroffene Gewalt gegen ihre Person angedroht bekommen. In vier Fällen, in nur einem Jahr, sind solche Gewaltandrohungen umgesetzt worden, einmal lebensbedrohlich.

Solche Offline-Vorfälle fanden vor allem in alltäglichen Situationen im öffentlichen Raum oder im privaten Wohnumfeld der Betroffenen statt.

Antisemitismus ist in Hessen Alltag. Dies wird bereits nach einem Jahr operativer Tätigkeit von RIAS Hessen deutlich. Die erfassten antisemitischen Vorfälle spiegeln bisher nur einen Teil des alltäglichen und reellen Antisemitismus wider. Insgesamt geht RIAS Hessen von einer deutlich höheren Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle im Bundesland aus.

Mit dem zunehmenden Bekanntheitsgrad der Recherche- und Informationsstelle Hessen soll das Dunkelfeld schrittweise weiter aufgehellt werden.