Jahresbericht RIAS Hessen

Grußwort

Uwe Becker © Katerina Gottesleben

Uwe Becker
© Katerina Gottesleben

Die Einrichtung der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) war der hessischen Landesregierung und mir ein besonderes Anliegen, denn es ist notwendig, dass antisemitische Äußerungen, Parolen, Schmierereien, Beschädigungen, Drohungen oder Angriffe auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze wahrgenommen und dokumentiert werden. Denn nur dadurch entsteht ein Bild, das über die Zahlen der jährlichen Kriminalitätsstatistiken hinaus einen klareren Blick auf den Antisemitismus in unserem Land möglich macht. Antisemitische Vorfälle dürfen daher auch unabhängig von ihren Erscheinungsformen nicht marginalisiert werden. Jede Form von Antisemitismus hat Auswirkungen auf den oder die Betroffene und damit auf unsere Gesellschaft. Deshalb ist es ein zentrales Anliegen, dass diese Fälle wahrgenommen und auch deutlich benannt werden. Dies gilt für Judenfeindlichkeit in all ihren Schattierungen, ob rechtsextremistisch motiviert, politisch links verortet, ob es sich um israelbezogenen Antisemitismus oder Judenfeindlichkeit aus muslimisch geprägten Kreisen oder um Mischformen handelt. RIAS Hessen widmet sich daher nicht nur der Dokumentation sowie Analyse des Antisemitismus in Hessen, sondern bietet darüber hinaus auch Unterstützung der von antisemitischen Vorfällen Betroffenen an, vor allem in Kooperation mit der Beratungsstelle OFEK e.V. Es muss gelingen, dass möglichst alle antisemitischen Vorfälle gemeldet werden, und zwar auch, wenn die Fallzahlen bedauerlicherweise noch immer über den Wunschvorstellungen liegen. Denn der entschlossene Kampf gegen Antisemitismus kann nur gelingen, wenn die Gesellschaft, die Politik aber vor allem auch jede und jeder Einzelne nicht die Augen verschließt, wenn es unbequem wird. Gerade das letzte Jahr hat gezeigt, dass die Grenzen der Strafbarkeit nicht immer überschritten werden, aber der Alltagsantisemitismus und antisemitische Stereotype und Äußerungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen zutage treten. Die antisemitischen Stereotype existieren vielerorts und sind unabhängig von Bildungshorizont, Herkunft und Religion. Daher liefern die Daten, die RIAS Hessen in seinem ersten Jahresbericht veröffentlicht, einen ersten Ansatzpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, den Jüdinnen und Juden in Hessen erfahren. 179 gemeldete Vorfälle, davon 38 Fälle auf der oder im Umfeld der documenta fifteen sind nur diejenigen, die explizit gemeldet wurden. Die Kunstausstellung war eine Gelegenheit, um antisemitische Statements und Einstellungsmuster zu äußern, die sonst vermutlich im Verborgenen geblieben wären. Daher ist auch davon auszugehen, dass das sogenannte Dunkelfeld, also diejenigen Vorfälle, die aus verschiedensten Gründen nicht gemeldet oder zur Anzeige gebracht werden, wohl wesentlich größer ist. In der Vergangenheit wurde beispielsweise in einer Befragung der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte herausgearbeitet, dass 2012 nur etwa 28 Prozent und 2018 nur 20 Prozent der Fälle angezeigt wurden. Dementsprechend müssen wir uns dafür einsetzen, dass die Betroffenen ermutigt werden, Vorfälle zu melden und vor allem müssen wir den Vertrauensaufbau zwischen Jüdinnen und Juden und den Strafverfolgungsbehörden fortführen und intensivieren. Es bedarf einer Sensibilität und eines umfassenden Wissens für Formen und Ausprägungen von antisemitischen Phänomenen. Diese sind nicht nur an politischen Rändern zu finden und werden nicht nur lautstark mit Parolen oder physischer Gewalt geäußert, sondern reichen weit in die Mitte unserer Gesellschaft hinein. Gerade hier lauern die Gefahren, wenn es darum geht, jede Form von Antisemitismus zu bekämpfen. Daher muss es uns gelingen, die Wahrnehmung der unterschiedlichen Erscheinungsformen zu schärfen und die Vernetzungen zwischen Strafverfolgungsbehörden, Wissenschaft und Betroffenen zu stärken.
Ich bin RIAS Hessen für die geleistete Arbeit sehr dankbar, weil dadurch auch meine Arbeit im Kampf gegen den Antisemitismus unterstützt wird.

Uwe Becker

(Beauftragter der Hessischen Landesregierung
für Jüdisches Leben und den Kampf gegen den Antisemitismus)