Jahresbericht RIAS Hessen
Fokuskapitel II Antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit der documenta fifteen
Die documenta fifteen fand vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 in Kassel statt. RIAS Hessen dokumentierte 38 antisemitische Vorfälle im Zusammenhang mit der Weltkunstschau.Eine ausführliche Analyse zu den antisemitischen Vorfällen auf der documenta fifteen findet sich in der Analyse der Geschehnisse („Es wurde eine dunkelrote Linie überschritten“) sowie dem Monitoringbericht („Die Juden machen uns unsere Kunstausstellung kaputt!“) Die Ausstellung stellte eine wichtige Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus in Hessen dar, auf die im Folgenden eingegangen wird: 30 der antisemitische Vorfälle ereigneten sich an acht Ausstellungsorten der Kunstausstellung. Dies wirkte sich für viele Jüdinnen:Juden in Hessen und darüber hinaus konkret auf ihren Alltag aus und beeinträchtigte auch das individuelle Sicherheitsempfinden.
Insgesamt sind zwölf der ausgestellten Kunstwerke als antisemitisch dokumentiert worden. Dazu gehörten Werke der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi. In vielen ihrer Werke sind zoomorphe Figuren zu sehen, d.h. Verschmelzungen von zum Beispiel Ratten und Schweinen oder Mischwesen aus Menschen und Tieren. Diese Figuren stellen in der Regel korrupte Politiker:innen oder geldgierige Kapitalist:innen dar. Immer wieder wird sich dabei einer antisemitischen Bildsprache bedient.
Bei der Serie „Guernica Gaza“ von Muhamad Al Hawajir handelt es sich um ursprünglich bekannte Werke berühmter Künstler:innen, bei denen er einige, manchmal zentrale, Elemente entfernte und stattdessen neue einfügte. Dadurch entstanden Werke, die auch dem Staat Israel dämonisierten. Mit dem Titel setzt er außerdem bewusst das von der Deutschen Luftwaffe gemeinsam mit den Bombern der spanischen Franquisten 1936 im Spanischen Bürgerkrieg zerstörte Guernica mit der heutigen Situation in Gaza gleich.
Auch antiisraelischen Terror und Gewalt gegen Israel verharmlosende Filme des Filmkollektivs „Subersive Film“ gehörten zu den antisemitischen Kunstwerken, die auf der documenta fifteen bis zum Ende der Schau gezeigt werden konnten.
Während der Ausstellungsdauer der documenta fifteen wurden RIAS weitere antisemitische Kunstwerke gemeldet. Dazu gehörten Werke, die vom Kollektiv „Archives des Luttes des femmes en Algérie“ gezeigt wurden. Diese Illustrationen bildeten u.a. israelische Soldaten als entmenschlichte, Kinder und Jugendliche drangsalierende und tötende Roboter mit Schweinenasen und Davidssternen auf ihren Helmen ab. Zudem traten während der Kunstausstellung einzelne Künstler:innen mit antisemitischen Kunstwerken oder Aussagen in Erscheinung. Hamja Ahsan als bekennender Unterstützer der BDS-Bewegung nahm während der Ausstellungszeit an Demonstrationen teil, die von BDS-Gruppierungen organisiert wurden.
Die überwiegende Anzahl antisemitischer Vorfälle, insgesamt 24, wurden dem israelbezogenen Antisemitismus zugeordnet. Weitere 13 Vorfälle sind unter dem Stereotyp des modernen Antisemitismus dokumentiert. 16 Vorfälle wurden, unter anderem, dem Post-Shoah-Antisemitismus zugeordnet. Weitere drei Vorfälle beinhalteten antijudaistischen Antisemitismus. Auf dem bekannten Tryptichon „People’s Justice“ der Künstlergruppe Taring Padi waren der israelbezogene, der moderne als auch der Post-Shoah-Antisemitismus miteinander verwoben.
Auf dem von Taring Padi gestalteten Banner fielen besonders zwei Figuren auf: Zum einen jene, die mit Raffzähnen, Zigarre und Schläfenlocken dargestellt wird. Die Figur grinst, hat blutunterlaufene Augen und trägt einen Hut mit einer SS-Rune. Einige Aspekte dieser entmenschlichten Darstellung gehen zurück bis zum christlichen Antijudaismus des Mittelalters. Durch die SS-Runen auf dem Hut wird die antisemitisch dargestellte Figur eines Juden zudem mit einer der brutalsten Einrichtungen Nazi-Deutschlands, der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS), gleichgesetzt. Eine andere Figur, Teil einer Militärphalanx, trägt ein rotes Halstuch und ist als einzige Figur der Reihe mit einem Schweinsgesicht versehen. Sie trägt einen Helm, auf dem der Name des israelischen Geheimdienstes „Mossad“ geschrieben steht. Sie ist Teil einer Armee, die die Menschheit versklavt. Auf den Helmen der anderen Figuren sind weitere Namen verschiedener westliche Geheimdienste zu lesen. Durch die dehumanisierende und dämonisierende Darstellung bediente sich das Kollektiv eines modernen antisemitischen Weltbilds. Die vermeintliche jüdische Allmacht sowie der Staat Israel wurden hier als düstere Lenkungsmacht des Weltgeschehens verteufelt.
Die Gelegenheitsstruktur für Antisemitismus, die durch die documenta fifteen 2022 entstand, hat sich auch außerhalb der Kunstausstellung für Betroffene bemerkbar gemacht. RIAS Hessen dokumentierte sechs antisemitische Vorfälle, die im Zusammenhang der Kunstschau standen, aber nicht auf der Kunstschau passierten. Zwei der fünf Vorfälle fanden online statt, zwei im Wohnumfeld, bei dem es auch zu einer Bedrohung kam. Einer ereignete sich in einem Museum als Bildungseinrichtung und ein weiterer im öffentlichen Nahverkehr.
Am 24. August 2022 hörte in Frankfurt eine meldende Person ein Gespräch zwischen zwei Männern mit, die sich über die documenta fifteen unterhielten. Es fielen Sätze wie „Die Juden sind so empfindlich“ und „Natürlich sind keine Israelis auf der documenta, die sind dabei, Kinder zu ermorden“. Die Person sprach die Männer an und forderte sie auf, ihren Antisemitismus zu reflektieren. Die Männer wurden daraufhin laut und beschuldigten die meldende Person, blind und naiv zu sein, sie solle sich doch dann eben von den israelischen Streitkräften erschießen lassen. Die meldende Person verließ die S-Bahn. Umstehende Personen reagierten nicht.
Kategorisierung: Israelbezogener Antisemitismus