Jahresbericht RIAS Hessen

Grußwort

Die nun vorliegenden Zahlen von RIAS Hessen dokumentieren 926 antisemitische Vorfälle in Hessen für das Jahr 2024 – ein signifikanter Anstieg im Vergleich zum Vorjahr mit 528 Fällen. Diese Entwicklung ist Ausdruck einer zunehmend besorgniserregenden Dynamik, die sich nicht isoliert von bundesweiten gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten lässt. Grundsätzlich sind die Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorkommnisse ein Seismograf für tieferliegende Strukturen, die insbesondere bei Krisen wirksam sind. Die derart angestiegenen antisemitischen Vorfälle im Land Hessen sollen ebenfalls im Kontext von gesellschaftlichen, politischen und medialen Verschiebungen nach dem 7. Oktober 2023 verstanden werden, die insbesondere seitdem eine neue Quantität und Qualität erreicht haben.

Die kontinuierliche Erfassung und differenzierte Analyse antisemitischer Vorfälle durch RIAS Hessen bildet eine wichtige Grundlage für die Sichtbarmachung antisemitischer Gewaltpotentiale und ihrer Wirkung auf die Betroffenen.

Als bundesweit agierende Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung OFEK e.V. arbeitet der regionale Ableger OFEK Hessen eng mit RIAS Hessen zusammen, um das Melde- und Beratungsnetzwerk weiter auszubauen und Meldenden sowie Ratsuchenden die nötige Unterstützung anzubieten.

Der Anstieg antisemitischer Vorfälle hat weitreichende Auswirkungen auf das Wohlbefinden, die psychische Gesundheit, das Sicherheitsgefühl und das Vertrauen in staatliche und gesellschaftliche Institutionen. Die Bearbeitung dieser Erfahrungen erfordert spezifisches Fachwissen, traumasensibles Vorgehen und ein differenziertes Verständnis für die historische wie gegenwärtige Dimension antisemitischer Gewalt. Die Beratungsstelle OFEK hat ebenfalls für das Jahr nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 die Zahlen der Beratungsstellen vorgelegt. Neben der primären Wirkung von erlittenen Vorfällen zeigt sich in der Beratungspraxis von OFEK, dass viele der dokumentierten Beratungsfälle eine nachhaltige Wirkung entfalten. Neben individuellen Belastungen beobachten wir eine Zunahme von Fällen, in denen Menschen institutionelle Abwertungen oder sekundäre Viktimisierung erfahren – etwa durch unzureichende Reaktionen von Schulen, Arbeitgebern oder Behörden. Dies unterstreicht die Notwendigkeit systematischer Erfassung, Analyse, aber auch Community-orientierter (professioneller) Betroffenenberatung wie auch der Sensibilisierung oder Schulung relevanter Berufsgruppen.

Die angestiegenen Zahlen sind in ihrer Summe keine bloße Zahl – es sind unter Umständen lebensgeschichtliche Erfahrungen, Bruchstellen und Re-Traumatisierungen. Antisemitische Vorfälle reichen von der Arbeitswelt bis in die Schulen, Hochschulen, die Nachbarschaft, die Freizeit. All das ist nicht neu und doch markierte der 7. Oktober 2023 einen Wendepunkt – die Gewaltbereitschaft, die Hetze, der Hass werden offensichtlicher, spürbarer und stellen eine wirkliche Bedrohung dar. Die Mehrheitsgesellschaft gewöhnt sich daran, hinterfragt nicht mehr, warum Jüdinnen und Juden markiert und angegriffen werden, warum Israel als Staat ohne nennenswerte Widerstände dämonisiert und delegitimiert wird.

Die zentrale Voraussetzung eines funktionierenden (zivilgesellschaftlichen) Meldesystems ist die Einbindung der Betroffenenperspektive. Dabei ist die Bereitschaft der Betroffenen, Vorfälle zu melden und dokumentieren zu lassen, zentral. Gemeinsam mit RIAS Hessen baut die Beratungsstelle OFEK Hessen tragfähige Kooperationen und Netzwerke auf. So wichtig die Erfassung des Vorfallgeschehens ist, dürfen die dahinterstehenden, antisemitischen Strukturen nicht aus dem Blick geraten. Die Disposition, Antisemitismus nicht mit institutionellen Strukturen zu verbinden und dem Problem eine eher symbolisch-abstrakte, als realexistierende Bedeutung zu verleihen, führt zu einer systematischen Ausblendung jüdischer Perspektiven und Normalisierung des Antisemitismus in und außerhalb von sozialen Institutionen – so auch an Hochschulen. Darin zeigt sich die Machtasymmetrie in der Auslegung und Definition des Antisemitismus, die bis heute überwiegend als abstrakt, ohne die angemessene Einbeziehung jüdischen Wissens, jüdischer Erfahrungen, transgenrationaler Traumatisierungen vollzogen wird.

Marina Chernivsky © Alex Hislop

Marina Chernivsky
© Alex Hislop

In der Beratungsstelle OFEK in Hessen wie auch bundesweit stieg die Nachfrage stark und nach dem 7. Oktober 2023 rapide an. Im ersten Jahr nach dem Massaker hat OFEK mehr Fälle aufgenommen und beraten als in sechs Jahren des Bestehens.

Umso wichtiger sind solche Kooperationen wie unsere! Wir danken RIAS Hessen für die enge und gute Kooperation.

Marina Chernivsky
Geschäftsführung OFEK e.V. Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung