Jahresbericht RIAS Hessen
Grußwort
Inhalt
In einer besorgniserregenden Zeit, in der das jüdische Leben in Deutschland und Europa so bedroht ist wie seit dem Ende der Shoah nicht mehr, müssen wir uns entschlossen den Herausforderungen des Antisemitismus stellen. Wenn wir nicht mehr Empathie für jüdisches Leben in unserem Land aufbringen und nicht noch konsequenter gegen Antisemitismus vorgehen, wird sich das Zeitfenster für jüdisches Leben in Europa schließen. Gerade der israelbezogene Antisemitismus ist in den zurückliegenden Jahren zu einer bestimmenden Ausprägung des Judenhasses geworden. Neben den großen Gefahren des rechtsextremistisch motivierten Judenhasses wächst zunehmend die Bedrohung aus der toxischen Symbiose linksextremistischer Gruppen mit den Vorfeldorganisationen des palästinensischen Terrors und dessen Sympathisanten. Besonders nach den barbarischen Massakern der Terrororganisation Hamas im Süden Israels am 7. Oktober 2023 haben sich die Wellen der Judenfeindlichkeit zu einem wahren Tsunami des Antisemitismus entwickelt. Besonders alarmierend ist dabei auch der Anstieg auf 926 antisemitische Vorfälle in Hessen. Eine erschreckende Steigerung um 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Diese Zahl ist nicht nur ein Indikator für ein wachsendes gesellschaftliches Problem, sondern auch ein eindringlicher Weckruf an uns alle, aktiv zu werden und hinzusehen und zu handeln – überall und jederzeit.
Dieser Anstieg der antisemitischen Vorfälle zeigt sich nicht nur in den Bildungseinrichtungen, insbesondere an Hochschulen und Schulen, wo wir eine Zunahme von Diskriminierungen und feindlichen Äußerungen erleben, sondern auch in öffentlichen Verkehrsmitteln und auf den Straßen. Bei Versammlungen, auf Plakaten, Stickern und Graffitis werden anti-jüdische Botschaften verbreitet, die eine bedrohliche Atmosphäre schaffen und das Sicherheitsgefühl für jüdische Bürgerinnen und Bürger stark beeinträchtigen. Jüdinnen und Juden haben Angst und verstecken in der Öffentlichkeit nur allzu oft die Zeugnisse ihres Glaubens. Für Jüdinnen und Juden besteht derzeit faktisch keine Religionsfreiheit in Europa, wenn man darin das freie, öffentliche Bekenntnis zur eigenen Religion sieht.
Die erschreckenden Zahlen für das vergangene Jahr 2024 verdeutlichen, wie massiv jüdische Studierende unter Druck geraten und wie deren Lernen sowie das allgemeine Wohlbefinden entscheidend gefährdet werden. Diese Zunahme spiegelt nicht nur die Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in Hessen wider, die sich aufgrund ihrer Identität immer wieder diskriminiert, beleidigt und bedroht fühlen. Sie ist vielmehr ein Zeichen für die Verwundbarkeit unserer gesamten Gemeinschaft. Antisemitismus ist nicht nur ein Problem der jüdischen Bevölkerung; er stellt eine Bedrohung für die Werte dar, die unsere demokratische, pluralistische Gesellschaft prägen – Werte wie Respekt, Toleranz und Solidarität.
Das Netzwerk jüdischer Hochschullehrender betont, dass die antiisraelischen Äußerungen an deutschen Hochschulen zunehmend ein Bedrohungsszenario für jüdische Studierende darstellen. Dies darf nicht hingenommen werden. Antisemitischen Haltungen müssen offen angesprochen werden und vor allem gilt es, ihnen entgegenzutreten. Dies betrifft insbesondere die akademische Freiheit, die nicht durch diskriminierende Äußerungen gegenüber jüdischen Studierenden gefährdet werden darf. So werden konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheitslage an Hochschulen gefordert, um dem ansteigenden Antisemitismus zu begegnen und die Hochschulen zu sicheren Orten für jüdische Studierende und Lehrende zu machen.
Wer Antisemitismus verbreitet, ob in Kunst, Kultur oder Wissenschaft, darf keine staatliche Unterstützung erfahren, denn Judenfeindlichkeit verletzt die Würde des Menschen und damit das Grundprinzip unserer Verfassung und unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates.
Es ist mehr als erschreckend, dass sich bei jungen Menschen in Deutschland im Alter von 16 bis 21 Jahren wiederholt erhebliche Anstiege bei antisemitischen Einstellungen zwischen 2022 und 2024 zeigen, vgl. MOTRA-Spotlight 1/25P. Wetzels, J.M.K. Fischer, K. Brettfeld, K., D. Farren: Antisemitische Einstellungen bei jungen Menschen in Deutschland – Befunde repräsentativer Umfragen zu Entwicklungen zwischen 2022 und 2024. MOTRA-Spotlight 01/25. MOTRA. https://doi.org/10.57671/motra-2025001
Angesichts der aktuellen Zahlen müssen wir uns mehr denn je auf die Handlungsfelder konzentrieren, die wir als Gesellschaft aktiv gestalten können. Die Lebensrealität vieler jüdischer Menschen in Hessen wird durch die wachsende Bedrohung des Antisemitismus stark belastet. Wenn Schülerinnen, Schüler und Studierende Angst haben, offen über ihre Identität zu sprechen, müssen wir alle gemeinsam Schritte unternehmen, um diese Ängste gar nicht erst entstehen zu lassen. Bildung, Sensibilisierung und eine klare Haltung in der Gesellschaft sind hierfür unerlässlich. Die Erfahrungen der Betroffenen müssen im Mittelpunkt unseres Handelns stehen. Jeder Übergriff, jede Diskriminierung, jede Drohgebärde muss ernst genommen werden. Deshalb ist es unerlässlich, dass wir nicht nur über Antisemitismus reden, sondern auch die entsprechenden Schritte einleiten, um nachhaltig und wirkungsvoll gegen diese Form von Hass vorzugehen. Schulen und Hochschulen spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Sie sind Orte der Sensibilisierung und der kritischen Auseinandersetzung. Lehrpläne müssen angepasst werden, um Themen rund um Antisemitismus und insbesondere israelbezogenen Antisemitismus umfassend zu integrieren. Die Antisemitismusprävention muss kultursensibel und umfassend gestaltet sein, um alle jungen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, anzusprechen. Lehrkräfte und Hochschuldozierende müssen geschult werden, um die komplexen gesellschaftlichen Dynamiken zu erkennen, die antisemitische Haltungen fördern, und diesen aktiv entgegenzutreten. Sie dürfen sich nicht hinter Begriffen wie Neutralität und Freiheit verstecken und diese instrumentalisieren.
Durch gezielte Maßnahmen im Bereich der Medienkompetenz müssen wir in Schulen und Hochschulen sicherstellen, dass junge Menschen lernen, Informationen kritisch zu bewerten, Manipulation und Fake-News zu erkennen, da die oft dazu dienen, antisemitische Vorurteile zu verbreiten. Die Bildungseinrichtungen müssen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch soziale Verantwortung fördern, um eine respektvolle und offene Debattenkultur zu schaffen. Aber die Kompetenz muss nicht nur von Kindern und Jugendlichen erworben und angewandt werden, sondern von jedem Einzelnen.
Ein weiterer zentraler Aspekt betrifft die Justiz. Es ist unabdingbar, dass alle Akteure im Justizsystem – von der Polizei bis zu den Richterinnen und Richtern – über das nötige Wissen und die Sensibilität verfügen, um antisemitische Vorfälle korrekt einzuschätzen und entsprechend zu handeln. Um dies zu erreichen, müssen umfassende Schulungsprogramme implementiert werden, die sich auf die Erkennung und den Umgang mit antisemitischen Symbolen und Verschwörungstheorien konzentrieren. Wer hetzerische Aufrufe, wie die bekannte Formel „From the river to the sea, Palestine will be free“ nicht als eindeutig antisemitisch erkennt und ggf. noch falsch interpretiert, läuft der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher und befördert im schlimmsten Fall selbst noch den israelbezogenen Antisemitismus in unserem Land. Eine bundesweite Untersuchung der aktuellen Verfolgungspraxis, insbesondere hinsichtlich verbotener Kennzeichen und Parolen, kann deshalb wertvolle Angaben für die rechtliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus liefern und einen konsistenten rechtlichen Rahmen schaffen.

Uwe Becker
© Katerina Gottesleben
In einer Zeit, in der die antisemitische Gesinnung, gerade auch der israelbezogene Antisemitismus, an einigen Orten in Deutschland salonfähig geworden ist, gewinnt unser gemeinsames Handeln zum Schutz jüdischen Lebens und zur Bekämpfung des Antisemitismus größte Bedeutung. Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, in der jüdisches Leben nicht nur geschützt, sondern aktiv gefördert wird.
Uwe Becker