Jahresbericht RIAS Hessen

Jüdischer Alltag und jüdisches Leben Wie verletzendes Verhalten zum Schatten wird  Ein Kommentar von Oliver Dainow

Oliver Dainow ist der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau.

„Vor wem müssen Sie da geschützt werden? Wer bedroht sie?“ Es ist dieser Moment am 12. Februar 2025 als die 92-jährige Eva Szepesi sichtlich irritiert nach Worten ringt und dennoch sehr geistesgegenwärtig das Gespräch auf die Relevanz von Begegnungen und Zeitzeugengesprächen lenkt. Die Shoah-Überlebende, die spätestens seit dem 31.Januar 2024 deutschlandweit durch ihre eindrückliche Ansprache im Deutschen Bundestag bekannt wurde, versucht noch einmal nachdrücklich die positiven Aspekte ihrer Begegnungen mit jungen Menschen hervorzuheben. Moderator Markus Lanz scheint in dieser Antwort jedoch keinen Gefallen gefunden zu haben und so richtet er die Frage an seinen zweiten Gast an diesem Abend: Marcel Reif.

Nun lässt sich über Fußball, Taktikten, Trainer und auch Kommentatoren mit Herzblut streiten. Unstrittig ist aber: wortkarg und auf den Mund gefallen ist Marcel Reif nicht. Doch selbst einem Profi wie Reif gelingt es nicht sofort auf diese Frage zu antworten. Lanz garniert seine Frage anschließend noch mit dem Zusatz „er finde, man sollte heute versuchen ein ehrliches Gespräch zu führen“. Und obwohl man unterstellen könnte, Markus Lanz kenne die Antwort bereits, so lautet die ehrliche Antwort auf die Frage: „Vor wem jüdisches Leben in 2025 geschützt werden müsse“ wohl: vor wem nicht?

Um dieses jüdische Leben in Deutschland im Jahre 2025 zumindest ansatzweise zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Geschichte notwendig. Dafür ist es nicht erforderlich, 1000 Jahre zurückzublicken, nicht einmal 200 Jahre muss in die Vergangenheit geschaut werden, eine Betrachtung der vergangenen 90 Jahre genügt. Dass wir heute das Privileg haben, überhaupt über ein florierendes jüdisches Leben zu sprechen, ist der Tatsache geschuldet, dass diese zwar kleine, aber dafür nicht minder resiliente Gemeinschaft mit ihren knapp 30.000 Mitgliedern bis Ende der 1980er Jahre an eine jüdische Zukunft in diesem Land geglaubt hat. Zu Recht, denn so war auch die Grundlage geschaffen für das, was jüdisches Leben überhaupt wieder aufkeimen ließ: die Zuwanderung jüdischer sogenannter Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre.

Heute sind es immerhin 92.000 jüdische Gemeindemitglieder in Deutschland, also ganze 0,1 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung. Und obgleich diese Gemeinschaft in Zahlen so gering vertreten ist, so sind Juden doch in aller Munde. Ob als machtgierige Strippenzieher im Hinter- und Vordergrund, ob als reicher Lobbyist, der die eigenen Ziele vorantreibt oder insbesondere in den Monaten seit dem 7. Oktober 2023 als kolonialistischer Besatzer und Verursacher größten Menschheitsübels. Diese Zahlen spielen in der weiteren Betrachtung und dem Umgang mit judenfeindlichen Tatbeständen eine große Rolle.

Es sind zwei Ebenen, zwei Kreise, die heute die jüdische Gemeinschaft ausmachen. Der erste Kreis das ist der Schutzkreis. Der Kreis der Gemeinden, der jüdischen Institutionen, der Sportvereine, der Jugendzentren, der Veranstaltungen. Die großen Events, vom Gemeindetag über die Jewrovision bis zum Jugendkongress. Die Räume, in denen man sich frei bewegen kann, in denen man nicht darüber nachdenken muss, ob man seine eigene Identität, das, was die Menschen ausmacht, was sie bewegt, wer sie sind, verstecken muss. Die Räume, in denen sie Strategien und Maßnahmen erleben, die dabei helfen sollen, ein einigermaßen selbstbestimmendes und unabhängiges Leben zu führen.

Es ist gleichzeitig auch der Kreis, der seit 1945 noch nie so ausgebaut und ausgeprägt war wie heute. Angebote unterschiedlichster Natur für jede Zielgruppe, ob jung, ob alt, geschlechterübergreifend, religiös oder nicht religiös geprägt: Innerhalb der vergangenen 80 Jahre hat es noch nie so viele Angebote für jüdische Menschen gegeben wie heute. So weit, so gut!

Weitet man den Blick aber auch nur ein kleines bisschen, zoomt man auch nur minimal aus diesem Bild heraus, so wird der zweite Kreis sichtbar. Der Kreis, die Ebene oder die Außenhaut, die den ersten Kreis umgibt. Dieser Kreis ist das Leben außerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Außerhalb der geschützten Räume. Und so hell das Licht im ersten Kreis auch leuchten mag, die Außenhaut wirft einen dunkeln Schatten, der das Licht nur noch sehr vereinzelt zum Vorschein kommen lässt.

Nicht jeder Jude ist religiös. Nicht jeder Jude trägt eine Kippa und nicht jeder Jude, der keine Kippa trägt, tut das aus Angst oder Zurückhaltung. Die Realität in Deutschland ist schlichtweg: Ein Großteil der jüdischen Bevölkerung lebt ihr Judentum nach unterschiedlichen Prämissen aus, die nicht immer auf dem Kern der religiösen Orthodoxie fußen. Das müssen sie auch gar nicht. Es gibt nämlich viele Wege, wie man seine jüdischen Wurzeln, seine jüdische Identität, sein ganz persönliches Judentum für sich ausleben und verorten kann.

Gleichzeitig sticht oft ein Impuls aus der Mehrheitsgesellschaft heraus, der immer noch ein, im besten Fall traditionelles, im schlimmsten Fall vorurteilsbehaftetes Bild „des Juden“ vor Augen hat. Ein bestimmter Kleidungsstil, gepaart mit körperlichen Merkmalen und eine gewisse öffentliche Affinität zur Religion. Es ist ein Bild, das sich schwer aus den Köpfen lösen lässt, weil es an Berührungspunkten mangelt. Die Praxiserfahrung bei Begegnungsformaten, Tagen der offenen Tür oder Synagogenführungen untermauert das. Es mag keine Metaanalyse aus dem Peer-Review-Verfahren von qualitativ hochwertigen Studien sein, aber auch anekdotische Evidenz ist Evidenz, insbesondere dann, wenn sie sich gemeindeübergreifend immer wieder replizieren lässt.

Das große Mysterium – „der Jude“ –, von dem man eigentlich wenig weiß, weil er ja lieber unter sich bleibt. Das zeigen ja schließlich auch die hohen Mauern, die Kameras und schlussendlich auch die Polizeifahrzeuge, die den Schutz jüdischer Einrichtungen zusätzlich gewährleisten. Oder etwa doch nicht? Es sind die ersten nachdenklichen Gesichter, in die man blickt, wenn man deutlich macht, dass auch die Türen der meisten Jüdischen Gemeinden offenstehen. Es sind zwar Sicherheitstüren und Türen, die im Schleusenverfahren wie am Flughafen einzeln betätigt werden müssen, aber geöffnet sind sie deshalb natürlich trotzdem.

Es sind die Momente, in denen Menschen zum ersten Mal erleben, wie es sich anfühlt, einen religiösen Raum in Deutschland zu betreten, aus deren Fenstern man Polizeifahrzeuge wahrnehmen muss. Und es sind diese Momente, in denen Menschen darüber nachdenken, wie man so etwas im Alltag eigentlich aushalten könne. Es sind Momente, in denen Empathie entsteht. In der Empathie nicht erzwungen wird, nicht auferlegt wird, sondern genuin empfunden wird.

Es ist der erste Kreis, der helle, von Licht geprägte Kreis in dem sich die Menschen nun bewegen. In dem sie alles erfahren können, was sie schon immer wissen wollten. Und es ist nicht selten der Fall, dass die Frage aufkommt, wie man denn aber außerhalb dieser Räume mit der gesamten Situation umgehen könne. Eine einfache Antwort auf diese Frage kann es nicht geben. Es kann auch keine allgemeingültige Antwort auf diese Frage geben, denn Menschen sind unterschiedlich. Menschen haben subjektive Empfindungen. Menschen erleben anders, fühlen anders, reagieren anders. Es gibt keine homogene Masse unter Menschen, im Judentum erst recht nicht. Wie soll eine aus der Tradition heraus wissbegierige, die eigenen Autoritäten immer wieder hinterfragende Glaubensgemeinschaft auch mit einer einzigen Antwort aufwarten können? Es scheint unmöglich. Und doch scheint die jüdische Gemeinschaft in der aktuellen Situation, in den Wochen und Monaten seit dem 7. Oktober 2023 zum ersten Mal eine gemeinsame, auf Erfahrungen basierte Sprache gefunden zu haben.

Der Anstieg antisemitischer Straftaten sorgte schon in 2023 für Besorgnis und Unmut. Zumindest bei denjenigen, die nicht schon kurz nach der Veröffentlichung mit der Dekonstruktion dieser Zahlen beschäftigt waren, indem sie herausarbeiteten, was davon eigentlich gar nicht judenfeindlich gewesen wäre. Denn immerhin habe ja vieles davon auch mit Israel zu tun. Und da müsse man schon aufpassen, dass man nicht pauschal Kritik an Israel als judenfeindlich abstemple. So zumindest die Erklärungen einiger „Nahostexperten“, deren Stimme sich immer nur dann erhebt, wenn Israel in die Offensive gehen muss. Aber sei es drum.

Die offensichtliche Realität, dass Jüdinnen und Juden auf der Welt, in Europa, in Deutschland, in Hessen Judenfeindlichkeit erleben, sobald etwas in Israel passiert, scheint dabei im Wahn der eigenen Realitätsverschiebung gerne ausgeblendet zu werden.

Mehr als 750 Vorfälle von verletzendem Verhalten wurden im Jahre 2024 in Hessen verzeichnet. Bei der Betrachtung der Zahlen zur jüdischen Bevölkerung kamen schon einmal Prozentzahlen zum Einsatz. 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wenden wir auch in diesem Fall das Werkzeug der Prozentrechnung an erreichen wir einen erschreckenden Wert einer 75-prozentigen Steigerung im Vergleich zum Vorjahr. 75 Prozent!

Und das, obwohl schon im November 2023 Menschen in den sozialen Medien von „Nie Wieder“ sprachen. Obwohl schon im November 2023 ein Solidaritätsempfinden einsetzte, das zwar bei weitem nicht so groß war, wie es nötig gewesen wäre und man es gebraucht hätte, aber es war zumindest vorhanden. Zum Zurücktreiben des judenfeindlichen Dämons hat es jedoch nicht gereicht. Nicht einmal im Ansatz. Das Gegenteil war der Fall.

Die Jüdische Gemeinschaft in Deutschland ist geprägt von einer Zuwanderungsgeschichte. Sie ist geprägt von Menschen, die aufgrund ihrer Herkunft, die aufgrund ihrer Religion, aufgrund ihres Namens verfolgt wurden. Sie ist aber eines ganz gewiss nicht: sie ist nicht geprägt von einer Opferrolle. Die jüdische Gemeinschaft zeichnet sich durch einen unbändigen Willen, dazuzugehören aus. Nicht nur ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, sondern diese Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Prozesse anzutreiben, eine Stimme im Diskurs, in der Debatte und in Gestaltungsräumen zu sein. Aktiv daran beteiligt zu sein, die Narrative um jüdisches Leben innerhalb der Gemeinschaft und insbesondere in der Mehrheitsgesellschaft zu lenken und zu beeinflussen.

Das erfordert Mut, das erfordert Anstrengung und ist gerade mit Blick auf die Zahlen der vergangenen Jahre nötig, damit eine jüdische Stimme Gehör finden kann. Aber wo werden diese Stimmen überhaupt gehört? Werden sie beim täglichen Gang zur Kaffeemaschine im Büro oder in der Mittagspause in der Kantine gehört? Werden sie im Unterricht, auf dem Pausenhof, in der Nachmittagsbetreuung gehört, wenn, mal wieder, judenfeindliche Äußerungen gemacht werden?

Die Antwort ist so einfach, wie sie gleichzeitig auch traurige Realität ist. Man muss kein Mathematikgenie sein, um sich selbst ausrechnen zu können, mit wie vielen jüdischen Menschen man in Kontakt kommt. Wie viele von ihnen außerhalb ihrer Schutzräume überhaupt bereit sind, über ihre jüdische Identität zu berichten. Sich zu öffnen, teilhaben zu lassen, von sich zu erzählen, da immer eine Grundangst mitschwingt, wie das Gegenüber darauf reagieren könnte. Wie es sich anfühlt, täglich dem blanken Hass ins Auge sehen zu müssen.

Sich in öffentliche Verkehrsmittel zu begeben und die Aufkleber mit „Kill the jews“ zu entdecken. Durch die Stadt zu laufen und Hakenkreuzen mit dem Aufruf „Juden raus“ zu begegnen. Das macht etwas mit den Menschen. Es sind nicht nur mehr als 750 Fälle, die man als Zahlen ad acta legt. Es sind genauso viele Ereignisse, die die Menschen verändern. Die ihre Wahrnehmung verändern. Die ihr Sicherheitsgefühl verändern. Die ihre Lebensweise verändern. Es sind Ereignisse, die dafür sorgen, dass Menschen sich in Isolation begeben. In denen sie stellenweise in Isolation gezwungen werden, weil sich andere von ihnen abwenden. Denn während die gängigen und nicht minder schweren Fälle vom Wunsch toter oder deportierter Juden seit Jahren bekannt sind, so hat die Gleichsetzung „Jude=Israel=Besatzer=Mörder“ die Tore zum gesellschaftlich übergreifenden und akzeptierten Judenhass vollends aufgestoßen.

„Tötet Zionisten“, Zionism = Fascism“ oder die jahrtausendalte Geschichte der jüdischen Kindermörder: Es ist alter Wein in neuen Schläuchen. Der Judenhass ist zwar anpassungsfähig, er ist resistent, er mutiert, aber eins ist er nicht: Er ist nicht besonders originell. Und obwohl man ihn eigentlich sofort, unvermittelt und klar erkennen kann, hat man es in den vergangenen Monaten seit dem 7. Oktober 2023 geschafft, ihn so salonfähig zu machen, dass er stellenweise Unterstützung, mindestens aber Toleranz und Akzeptanz findet.

Der einfache, hohle und direkte Hass auf Juden, in der Regel begleitet vom Begriff „Jude“ selbst, war lange Zeit ein Tabu. Nicht mehr ganz so akzeptiert wie früher einmal. Er musste also zwangsläufig mutieren. Denn dass man ihn loswerden würde, also die Idee, dass man Antisemitismus aus der DNA der Bevölkerung verbannen könne, das war schon immer eine Utopie. Und da es heute nicht mehr politisch korrekt ist, die Juden selbst zu hassen, projiziert man diesen Hass eben auf die Zionisten, auf Israel, und alles, was dazugehört.

Es mag an dieser Stelle überflüssig erscheinen darauf hinzuweisen, dass Kritik an der israelischen Regierung selbstverständlich möglich ist. Das demonstrieren und beweisen tausende Israelis täglich seit Monaten und Jahren. Doch die Linien, an denen die Kritik in Judenfeindlichkeit überschwappt, sind verschwommen wie noch nie. Die Realität zeigt: Wenn ein Rabbiner niedergestochen wird, „wegen dem, was in Israel passiert“, wenn jüdische Studenten aus ihren Universitäten verbannt werden „wegen dem, was in Israel passiert“, wenn jüdische Einrichtungen Drohungen erhalten, „wegen dem, was in Israel passiert“, wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden „wegen dem, was in Israel passiert“ dann hat es rein gar nichts mit Israel oder Zionismus, oder welches Substantiv man auch immer einsetzen will, zu tun, sondern es hat ausschließlich mit Juden, dem Judentum und dem Hass auf Juden zu tun. Dem Hass, der sich mancherorts in Worten widerspiegelt, durch Aufkleber, Hetzerei oder Onlinepöbelei, an anderen Stellen durch Tätlichkeiten und Übergriffe. Die Linien verschwimmen auch hier sehr schnell, und das eine führt häufig recht schnell zum anderen.

Solange der Antisemitismus in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen immer wieder neue Deckung in der Gesellschaft findet, weil er in einem leichten Mantel von antiisraelischen Narrativen bekleidet daherkommt, so lange wird der Judenhass auch weiterhin sozial akzeptiert sein. Manifestiert hat er sich überall. Ob links, ob rechtsextrem oder -populistisch, in der Mitte der Gesellschaft, religiös geprägt oder ideologisch gefärbt. Wenngleich große Zweifel bestehen, dass Markus Lanz eine so lange und detaillierte Schilderung der Wahrnehmung ohne Unterbrechung zugelassen hätte: Vor alldem muss jüdisches Leben geschützt werden.

Die Auswirkungen dieser Entwicklung sind immens. Nicht erst durch die beiden Kreise, die sich um die jüdische Gemeinschaft geschlossen haben, sondern auch wegen der individuellen Auswirkungen auf die Menschen selbst. War man sich in der Vergangenheit schon unsicher, im äußeren Kreis zu seiner jüdischen Identität zu stehen, so werden die vergangenen Monate nicht dazu beigetragen haben, ein besseres Sicherheitsgefühl zu entwickeln. Andere, die bisher aktiv waren, ziehen sich an manchen Stellen zurück, weil die Last kaum zu ertragen ist. Die Nächsten wiederum werden noch aktiver, noch lauter, aber der Zoll, der ihnen dabei abverlangt wird, ist kaum zu bemessen. Subsumiert führen diese Entwicklungen nicht zu einer größeren Sichtbarkeit jüdischen Lebens. Etwas, was händeringend notwendig wäre. Auch und insbesondere außerhalb des sicheren ersten Kreises. In alltäglichen Lebenslagen und Begegnungen.

Der verstorbene britische Rabbiner Jonathan Sacks hat einmal in einem Essay geschrieben: „Juden wurden gehasst, weil sie reich waren und weil sie arm waren, sie wurden gehasst, weil sie Kapitalisten und Kommunisten waren, weil sie einen festen Glauben an die Traditionen und weil sie losgelöste Weltenbürger waren, weil sie unter sich blieben und weil sie überall sein wollten.“ Sie wurden also immer gehasst. Und wollten sich dennoch nie als Opfer sehen.

Wie lassen sich die Sorgen der Besorgten also verstehen und nachvollziehen? Wenn selbst differenzierte Berichte, Meinungsartikel oder Social Media-Formate nicht oder nur bedingt greifen, weil man sich immer wieder im eigenen „ja aber…“ wiederfindet? Es gibt ein gutes, ziemlich einfaches und doch oft so schwer umsetzbares Mittel: die Hand ausstrecken. Kontakt suchen. Mit den Menschen direkt sprechen. Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde aufnehmen, Veranstaltungen besuchen, Fragen stellen.

Denn klar muss sein: es sind keine Sorgen, die nur eine Gruppe von Menschen betrifft. Antisemitismus ist ein Übel, dessen Wurzel nicht nur den Ast vergiftet, der die Zweige des Judentums trägt. Er vergiftet alle Zweige, alle Äste und den Stamm, der unser Miteinander und unsere Gesellschaft ausmacht. Wir alle sind der Baum. Wer für Menschenrechte eintritt und Israel das Existenzrecht abspricht, trägt zur Vergiftung eines Zweiges bei. Wer sich gegen Rassismus einsetzt und bei Antisemitismus schweigt, sorgt dafür, dass ein Zweig abstirbt. Aber dieses Gift, diese Krankheit endet nicht bei diesem Zweig. Es endet nicht bei diesem einen Ast. Es vergiftet den ganzen Baum.

Oliver Dainow ist der Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Hanau. © Michael Pasternack, Photographer

Oliver Dainow
© Michael Pasternack, Photographer

Dieser Baum sind wir alle! Es sind unsere Werte, unser Zusammenleben und unsere Gemeinschaft, die auf dem Spiel stehen. Erst wenn wir Antisemitismus als Gefahr ernst nehmen, wenn wir ihn nicht als Bagatelldelikt oder Rechtfertigung für andere Ideologien heranziehen und ihn als gemeinsames Übel erkennen, erst dann besteht überhaupt eine Chance, ihn zurückzudrängen.

Oliver Dainow