Fokuskapitel I
Antisemitismus im Alltag
Inhalt
Viele antisemitische Vorfälle, die Betroffenen im Alltag begegnen, sind Vorfälle, die von RIAS Hessen unter der Kategorie verletzendes Verhalten verzeichnet werden. Für das Jahr 2024 wurden 759 Vorfälle des verletzenden Verhaltens dokumentiert. Es handelt sich dabei um antisemitische Vorfälle, die nicht gewalttätig waren, während derer keine Erinnerungsorte oder jüdisches Eigentum beschädigt wurden und die keine direkten Bedrohungen oder Massenzuschriften waren. Die Bandbreite der Vorfälle des verletzenden Verhaltens ist damit extrem breit gefächert und reicht von antisemitischem Aufkleber über antisemitische Beleidigungen bis hin zu Versammlungen, während derer Antisemitismus geäußert wurde.
170 Vorfälle verletzenden Verhaltens fanden von Angesicht zu Angesicht statt. Lediglich 1, 6 Prozent dieser dokumentierten Vorfälle wurden von den Betroffenen für eine Veröffentlichung freigegeben. Dieser geringe Anteil resultiert auch daraus, dass sich viele der Vorfälle im direkten Umfeld von Betroffenen ereigneten bzw. die Personen, die sich antisemitisch äußerten, waren den Betroffenen bekannt. Andere Vorfälle ereigneten sich unvermittelt, an Orten des Alltags wie der Straße, Parks oder einem Café – wie in dem folgenden Vorfall. Eine Person mit Kippa besuchte mit einer Gruppe von Freunden ein Café in Frankfurt am Main. Kurz nach dem Eintreten folgte ein älterer Mann der meldenden Person und nahm sein Handy von der Ladestelle, etwa zwei Meter neben der meldenden Person. Der ältere Mann sagte dabei für die meldende Person gut hörbar: „Not good“. Auf die Nachfrage, was „not good” sei, antwortete die Person: „Talmud no good, I know it all. It’s the Devil”. Danach entfernte er sich. Betroffene wurden auch 2024 unvorbereitet und unerwartet mit antisemitischen Aussagen oder auch Beleidigungen konfrontiert. Umstehende, die diese antisemitischen Aussagen mitbekamen, reagierten oftmals nicht, sodass sich Betroffene allein der Situation ausgesetzt fühlen.
Mit 163 Vorfällen machten antisemitische Schmierereien ebenfalls einen großen Anteil an den Vorfällen verletzenden Verhaltens aus. Bei Schmierereien war über den Verlauf des Jahres 2024 eine sprachliche Radikalisierung festzustellen. Antisemitische Graffiti zu Israel und Zionismus nahmen im Lauf des Jahres ab; dafür nahmen Schmierereien mit Gewaltaufrufen gegen Jüdinnen und Juden signifikant zu. Zu Beginn des Jahres 2024 traten – wie bereits Ende 2023 – immer wieder Schmierereien auf, die den Staat Israel dämonisierten. Anfang Januar 2024 fanden sich an mehreren Haltestellen (oberirdisch und in U-Bahn-Stationen) in Frankfurt am Main Schmierereien wie „Israel = Terror + Apartheid Staat“ bzw. „Israel = Terrorstaat“ sowie „Israel = Apartheidstaat“. Vergleichbare Schriftzüge fanden sich im gesamten Stadtgebiet über das Jahr verteilt, auch in Einfahrten oder auf Litfaßsäulen.
Die Verneinung von Israels Existenzrecht wurde 2024 in Hessen gleichfalls über Schmierereien verbreitet. Diese antisemitischen Schmierereien wurden verstärkt in der Mitte des Jahres 2024 an RIAS Hessen gemeldet. Es handelte sich dabei um Schmierereien wie beispielsweise ein geschmiertes „F*ck Nazionisten“ an einer öffentlich zugänglichen Tür, an der sich ein Hinweis auf Lebensgefahr durch Strom befand.
Die gemeldeten Vorfälle reichten bis zu offenen Aufrufen zur Gewalt, wie die an einer Hauswand angebrachte Schmiererei „Kill Zionists“ im März 2024. Über das Jahr 2024 verteilt, aber auch hier insbesondere ab der zweiten Jahreshälfte traten Aufrufe zur Gewalt oder Todeswünsche gegen Jüdinnen und Juden gehäuft auf. Insgesamt wurden von RIAS Hessen 25 Vorfälle, in denen dazu aufgerufen wurde, jüdische Personen zu töten, dokumentiert. Teilweise handelt es sich dabei um Vorfälle, bei denen gleich mehrere Schmierereien mit dem gleichen Inhalt in relativer Nähe zueinander entdeckt wurden und deshalb nur als ein Vorfall aufgenommen wurden. Diese Graffitis wurden der Kategorie verletzenden Verhalten zugeordnet, weil diese nicht eine konkrete Person bedrohten. Eine derartige Schmiererei wurde am 29. September 2024 entdeckt und an RIAS Hessen gemeldet. Auf den asphaltierten Weg eines Parks im Nordend in Frankfurt am Main wurde etwa 2,5 x 1 Meter groß der Schriftzug „Jude verr*cke“ geschmiert. Dieser Schriftzug wurde insgesamt zwölfmal an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten dokumentiert. So auch am 2. November 2024 an der Rückwand einer Bushaltestelle in Frankfurt-Hausen. Dort wurden zwei Schriftzüge mit dem Aufruf, Juden zu töten, geschmiert. Für Meldende bedeutete dies, dass sie beispielsweise während eines Spaziergangs oder auf dem Weg in die Arbeit auf derartige Graffiti stießen und mit dem gewaltvollen Inhalt konfrontiert wurden.
Als besonders einschneidend wurden von vielen Meldenden auch geschmierte rote Dreiecke wahrgenommen. Die Terrororganisation Hamas markiert in Propagandamaterial mit derartigen Dreiecken Personen als „Feinde“, die eliminiert werden sollen. In Wiesbaden wurde ein „Hamas-Dreieck“ über einen „Believe Israeli Women“ Sticker geschmiert. In einige der roten Dreiecke wurden Davidsterne geritzt. Eines war mit dem Spruch „From Zionism“ versehen, also ein Verweis auf den Wunsch, Israel möge besiegt werden und die jüdische Selbstbestimmung enden. Diese Schmierereien wurden von RIAS Hessen dokumentiert. Insgesamt wurden in Wiesbaden am 5. und 10. Juni und am 16. Juli 2024 rund 30 rote „Hamas-Dreiecke“ an verschiedenste Oberflächen geschmiert vorgefunden. Obgleich es kaum einen Bezug zu Personen oder Einrichtungen gab, fühlten sich Menschen dadurch bedroht.
Das rote Dreieck der Hamas wird von RIAS-Stellen ausschließlich dann als antisemitischer Vorfall dokumentiert, wenn es in Verbindung mit anderen Symbolen oder direkten Bezügen zu jüdischen und israelischen bzw. solidarischen Personen oder Einrichtungen verwendet wird. Dann stellt es eine antisemitische Feindmarkierung dar. Dasselbe gilt auch für das Hakenkreuz und andere NS-Symbole. Diese müssen über das Symbol hinaus auf Jüdisches, die Shoah etc. verweisen oder sich gezielt auf eine Person oder Einrichtung beziehen.
Ausgenommen der Vorfälle auf Versammlungen wurden in der Kategorie verletzendes Verhalten 86 Vorfälle dokumentiert, bei denen eine Abwertung – wie beispielsweise „Dreck“ oder „Sau“ – mit „Jude“ zusammengebracht wurde. Ein solcher Vorfall ereignete sich am 31. Januar 2024 während einer online-Veranstaltung im Rahmen einer Studienveranstaltung, die durch das Rufen von „Sch*-Juden“ sowie NS- und Shoah-verherrlichenden Parolen gestört wurde. Bei weiteren 18 Vorfällen kam es zu der Befürwortung der Shoah und bei 48 Vorfällen wurden jüdische Einrichtungen oder Jüdinnen und Juden in Hessen für die Politik des Staates Israel in Verantwortung gezogen.
Antisemitische Versammlungen
Versammlungen werden meistens angemeldet und Personen können versuchen, Versammlungen, die antisemitische Gelegenheitsstrukturen bieten, zu entgehen. Das Ausweichen von Betroffenen unterstreicht die öffentliche Raumnahme, die durch Versammlungen stattfindet. Versammlungen bringen Personen aus verschiedenen politischen Milieus zusammen und antisemitische Inhalte, die auf diesen Versammlungen geäußert werden, erfahren größere Aufmerksamkeit. Eine ständige Wiederholung antisemitischer Aussagen führt zu deren Normalisierung und lässt die Aussagen als legitime Meinungsäußerung und nicht als das Verbreiten antisemitischer Stereotype erscheinen.
2024 wurden 209 Versammlungen dokumentiert, bei denen es zu antisemitischen Vorfällen kam. Nahezu alle Veranstaltungen nahmen Bezug auf Israel und es wurde bei 202 Versammlungen israelbezogener Antisemitismus verbreitet. Die verbreiteten antisemitischen Narrative der Versammlungen, wie beispielsweise der „Kindermord“-Vorwurf, der auf die antisemitische Ritualmordlegende zurückgeht, oder die Dämonisierung Israels und eine Relativierung der Shoah durch NS-Vergleiche wiederholten sich auf vielen Veranstaltungen. Zugleich zeigte sich ein Normalisierungseffekt, denn die anfangs strikten Auflagen für die Versammlungen wurden über die Monate gelockert und auch auf den Versammlungen radikalisierten sich die Vorfälle, unter anderem durch die Verherrlichung antisemitischer Gewalt oder die offene Leugnung der Gewalt des 7. Oktobers 2023.
Während einer antiisraelischen Kundgebung in Darmstadt am 2. November 2024 wurde von einem Redner Folgendes gesagt: „Zionismus, du hast kein Recht zu existieren, … hast kein Recht zu kolonisieren, … hast die Pflicht, die Waffen zu strecken, hast die Pflicht, endlich zu verrecken.“ Die sexualisierte Gewalt der Hamas am 7. Oktober 2023 wurde geleugnet und die terroristische Gewalt als Freiheitskampf glorifiziert: „Annalena [die damalige Außenministerin der Bundesrepublik Deutschland, A. Baerbock], kein Video hast du gesehen, auf dem sich Freiheitskämpfer an Frauen vergehen.“ In einer Rede wurde über die angeblich illegitime Aneignung von Kultur, Essen und Musik durch Israel behauptet: „… Zionisten versuchen sich als orientalisch in der Region festzusetzen, obwohl wir alle wissen, wo sie herkommen. Die meisten kommen aus Osteuropa! Aus Russland. Aus Frankreich. Aus Deutschland. Sie sind aus der ganzen Welt hergekommen, um das Land zu besetzen, nicht, um als gleiche Menschen zu kommen. Die Zionisten kennen das nicht. Die sind Kolonialisten und das dürfen wir nie vergessen. … sie sind nicht Teil der orientalischen nahöstlichen Kultur! … Lasst euch nicht verarschen von … Politikern in Deutschland, die sagen wollen, dass dieses zionistische Gebilde immer einen Platz hatte auf der ganzen Welt im Nahen Osten. Das stimmt nicht.“ Damit wurde sowohl die Herkunft von Jüdinnen und Juden aus dem heutigen Israel und der weiteren Umgebung negiert als auch das Leben in der Diaspora, und damit auch in arabischen Mehrheitsgesellschaften. Sefarden und das mizrachische Judentum wurden somit ebenfalls komplett ausgeblendet. Dass sich Kulturen gegenseitig beeinflussen, wurde in dieser ethnozentristischen Rede nicht berücksichtigt.
Auch Gedenktage wie der 9. November 2024 wurden zur Verbreitung von antisemitischen Narrativen benutzt. Die Stadt Fulda verbot eine angemeldete Kundgebung wegen des Datums und dem Bezug zu den Novemberpogromen 1938. In Darmstadt, wo stattdessen der sogenannte Schweigemarsch stattfand, scheiterte der vorab eingereichte Verbotsantrag. Auf der Versammlung waren ca. 200 Personen anwesend. In einer Ansprache wurde gesagt: „Unser Motto für den 9. November lautet daher: ‚Vergangene Völkermorde nicht vergessen! – Aktuelle Völkermorde nicht ignorieren!‘ In diesem Sinne gedenken wir heute und hier sowohl der Opfer des Völkermords vor 86 Jahren in Deutschland und Europa und als auch der Opfer des Völkermords in Gegenwart in Gaza. … In diesem Moment, während wir hier stehen und uns an die Gräueltaten des Holocaust erinnern, werden von Israel unschuldige und wehrlose Babys, Kinder, Frauen und Zivilisten in Gaza, Palästina und Libanon brutal getötet, Minute für Minute. … Die Lehre, die sich aus unserer deutschen Verantwortung und Schuld aufgrund des Holocausts ergibt, kann nicht darin bestehen, die israelische Politik stets und unter allen Umständen zu unterstützen. … Die Lehre aus dem Holocaust darf nicht sein, dass jegliche Kritik am Staat Israel tabuisiert wird oder dass dieser Staat als unantastbar gilt. Auf keinen Fall stehen wir an der Seite des Kindermörders und des Völkermörders! … Die Wahrheit ist: Diese humanitäre Katastrophe begann nicht am 7. Oktober. Israel ist nicht das Opfer, sondern der Täter! … In Deutschland ist die Uhr am 7. Oktober stehengeblieben. Das offizielle Deutschland hat durch die Lobbyisten Israels eine Vollnarkose bekommen und wurde in den Tiefschlaf sediert. … Kommt raus aus der Gefangenschaft von zionistischen Israel – Lobbyisten! … Zum Schluss will ich hier ausdrücklich unser wichtigstes Ziel ankündigen: Gemeinsam mit euch und Friedensaktivisten Hessen und Deutschland weit werden wir unser gemeinsames Land Deutschland aus der Gefangenschaft der zionistischen Israel-Lobbyisten befreien!“ Die Veranstalter hinter dieser Kundgebung mobilisierten während des gesamten Jahres 2024 hindurch hessenweit für Versammlungen, und die Ansprachen variierten nur gering. Die Redner bezogen sich oft auf die Shoah, delegitimierten den Staat Israel und den Zionismus und sprachen von finsterer Einflussnahme, sodass sich verschiedene antisemitische Erscheinungsformen verschränkten.
Ein besonders einschneidendes Beispiel für die schleichende Normalisierung antisemitischer Narrative und Veranstaltungen stellte die gemeinsame Veranstaltung einer antiisraelischen Gruppierung und einer evangelischen Gemeinde in Darmstadt dar. Die zivilgesellschaftliche Solidarität mit der jüdischen Community war seit dem 7. Oktober 2023 und dem seitdem sprunghaften Anstieg von antisemitischen Vorfällen in ganz Hessen gering. Ein hörbarer zivilgesellschaftlicher Aufschrei gegen den Anstieg des Antisemitismus und eine breite Solidarisierung mit Jüdinnen und Juden blieb aus. Mit der Veranstaltung der evangelischen Gemeinde wurde antisemitischen Narrativen ein Raum und die Legitimation der Gemeinde gegeben. Die evangelische Kirche Hessen-Nassau hat im Nachgang der Veranstaltung jedoch konsequent reagiert und sich nicht nur von den gezeigten Inhalten distanziert, sondern auch Konsequenzen aus dem Vorfall gezogen.
Was war geschehen? In der evangelischen Michaelsgemeinde Darmstadt wurde über das Wochenende des 14. und 15. Dezember 2024 ein „Antikolonialer Weihnachtsmarkt“ veranstaltet. Im Gemeindehaus wurden u.a. Lebkuchenherzen und Schlüsselanhänger mit Slogans und dem roten „Hamas-Dreieck“ angeboten. Anhänger an Lederbändern und Stofftaschen und Aufkleber zeigten Palästina ohne Israel. Auch gab es einen Aufkleber „Resistance“; mitzunehmen waren zudem kalligrafische Plakate mit dem Aufruf „Intifada“. Auf ausgelegten Flyern war „Truth prevails: From the River to the Sea, Palestine will be free“ zu lesen; Broschüren und Plakate waren bedruckt mit: „Es begann nicht am 7. Oktober – 76 Jahre Genozid in Palästina … Der 7. Oktober 2023 kann nicht außerhalb des Kontextes der jahrzehntelangen Gewalt gegen Palästina und insbesondere Gaza – dem größten Freiluftgefängnis der Welt – betrachtet werden …“ Auf einem anderen Plakat stand: „Wir lehnen es ab, die Gewalt der Besatzer mit dem gewaltsamen Widerstand der Besetzten gleichzustellen und zu enthistorisieren. Wir lehnen die Kriminalisierung jeglichen Widerstandes ab …“. Die jüdische Community war entsetzt. Es seien „sämtliche Register gezogen worden, um Israel zu dämonisieren und zu delegitimieren“, schlussfolgerte der Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden in Hessen, Daniel Neumann, laut epd. Im März 2025 schrieb Neumann, nachdem die Landeskirche entschieden durchgegriffen hatte: „… diesmal erschöpfte sich das Bekenntnis zum Kampf gegen Antisemitismus nicht in wolkigen Formulierungen und wohlklingenden Worten. Ganz im Gegenteil. Diesmal ließ die Kirche Taten folgen. Beherzt, entschlossen und konsequent. Und demonstrierte damit, wie man Antisemitismus und Israelhass glaubwürdig und konsequent bekämpft. So soll es sein. Mehr davon!“https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/darmstadt-diesmal-liess-die-kirche-taten-folgen/
Doch insgesamt war das Jahr 2024 war mit Blick auf die Kategorie verletzendes Verhalten ein Jahr der Radikalisierung und Normalisierung und damit ein Jahr der Ernüchterung für die jüdischen Gemeinden und Gemeinschaften.Vgl. den Kommentar von Oliver Dainow