Jahresbericht RIAS Hessen
Wo hat unsere Bildungslandschaft versagt? Ein Kommentar von Sabena Donath
Inhalt
Sabena Donath ist Direktorin der Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland. Sie wurde in Kapstadt geboren, studierte Erziehungswissenschaften, Psychologie und Soziologie in Frankfurt am Main. Seit 2012 leitet sie die Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, die sich zur Aufgabe gemacht hat, ein jüdisches Bildungsprogramm in Deutschland zu etablieren. In diesem Rahmen forscht und lehrt sie maßgeblich zu Antisemitismus, transgenerativen Auswirkungen der Shoah und pluralen jüdischen Gegenwarten in der postmigrantischen Gesellschaft. Sabena Donath versteht es als ihre Aufgabe diese Positionen wissenschaftlich einzuordnen und ihnen Sichtbarkeit zu verleihen.
Antisemitismus an unseren Schulen und Universitäten ist kein Randphänomen, sondern spätestens seit dem „Schwarzen Schabbat” eine alarmierende Realität. Die Massaker der islamistischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel und die darauffolgenden Reaktionen in Deutschland sollten das jedem klargemacht haben. Der Jahresbericht 2024 von RIAS Hessen belegt das auf schockierende Art und Weise: Bildungseinrichtungen, die eigentlich Orte der Aufklärung sein sollten, sind immer häufiger Schauplätze antisemitischer Anfeindungen. Die Vorfälle nehmen zu, die Hemmschwellen sinken – und die Frage drängt sich auf: Wo hat unsere Bildungslandschaft versagt? Hatte nicht schon der Philosoph Theodor W. Adorno als allererste Forderung an Erziehung gestellt, „dass Auschwitz nicht noch einmal sei”?
Es ist eine Illusion zu glauben, dass der Antisemitismus ein Relikt der Vergangenheit wäre. Und doch verortet der Schulunterricht ihn primär nur dort. Vielmehr zeigt sich, dass dort, wo Bildungslücken klaffen, Verschwörungserzählungen und antisemitische Ressentiments sich ungehindert ausbreiten können. Der Geschichtsunterricht behandelt die Schoah meist mehr oder weniger gründlich, aber die Auseinandersetzung mit den modernen Ausprägungen des Antisemitismus, der sich in Hass auf den Staat Israel, Verschwörungsnarrativen oder offenen Anfeindungen gegen jüdische Schüler*innen äußert, bleibt zu oft aus. Genauso fehlt es an einem offenen und aktuellen Diskurs, und antisemitische Vorfälle im Klassenzimmer werden von nicht-jüdischen Lehrkräften entweder nicht erkannt oder aus Unsicherheit bagatellisiert. Wenn jüdische Schüler*innen sich in ihrer eigenen Schule nicht mehr sicher fühlen, dann hat nicht nur unsere Gesellschaft versagt.
Versagt hat auch die unzureichende Vorbereitung von Lehrkräften auf dieses Problem. Während angehende Lehrer*innen umfassend in Didaktik, Methoden und pädagogischen Konzepten ausgebildet werden, bleibt die Vermittlung von Wissen über Antisemitismus und dem Umgang mit ihm oft außen vor. Wer von Lehrkräften erwartet, dass sie souveräner auf Antisemitismus reagieren, muss sie auch entsprechend ausbilden. Hier braucht es verbindliche Module zur Prävention und Intervention bereits während des Studiums. Denn nur wer Antisemitismus erkennt, kann ihn auch wirksam bekämpfen.
Realität ist: Antisemitismus grassiert in Hessen, wie auch im Rest der Bundesrepublik. So viel steht fest. Die Anzahl dokumentierter Vorfälle von RIAS schießt in die Höhe und hilft uns nur ansatzweise dabei, das Ausmaß zu begreifen. Denn hinter jeder Zahl steht eine Geschichte und die kann RIAS gar nicht vollständig abbilden. Insgesamt 926 Geschichten stehen für das Jahr 2024. Wie kann das im Grundgesetz verbriefte Recht auf Bildung trotz der 169 antisemitischen Vorfälle an hessischen Hochschulen und Schulen für jüdische Kinder und Studierende gewährleistet werden?
Auch an Universitäten und Hochschulen ist die Situation besorgniserregend. Nach US-amerikanischem Vorbild wurden Universitätsgebäude besetzt oder sogenannte „Protestcamps” errichtet. Jüdische Studierende berichten von Terrorverherrlichung wie dem roten „Hamas-Dreieck”, antisemitischen Schmierereien, Israel-Boykottaufrufen und Anfeindungen in Seminaren. Dozierende bleiben oft passiv, aus Angst, in die politische Schusslinie zu geraten oder heizen diese aggressive Stimmung selbst an. Manche universitären Veranstaltungen bieten gar ein Forum für antisemitische Narrative – sei es durch einseitige Diskurse zum israelisch-palästinensischen Konflikt oder dadurch, dass das Existenzrechts des jüdischen Staates infrage gestellt wird. Die akademische Freiheit darf nicht als Feigenblatt für antisemitische Hetze missbraucht werden. Auch hier gilt: antisemitismuskritische und diskriminierungssensible Lehre muss Grundbedingung an Hochschulen sein – die zahlreichen Vorfälle offenbaren, wie viel Nachholbedarf auch die Akademia noch hat.
Die Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP im Deutschen Bundestag haben am 29. Januar 2025 mit dem interfraktionellen Antrag „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen entschlossen entgegentreten sowie den freien Diskursraum sichern” eine Richtung zur Bekämpfung von Antisemitismus im Bildungssektor vorgegeben. Doch Papier ist geduldig. Mit einer solchen Resolution werden noch keine physischen oder verbalen Angriffe auf dem Schulhof oder in der Mensa verhindert. Es braucht eine entschiedenere Umsetzung auf allen Ebenen. Die Verantwortung liegt eben nicht nur bei der (Bundes-)Politik, sondern auch bei den Bildungseinrichtungen selbst. Schulleitungen, Hochschulverwaltungen und Lehrkräfte müssen für sich selbst erkennen, dass Antisemitismus kein Randthema ist, sondern in erster Linie eine Bedrohung für jüdische Schüler*innen und Studierende sowie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Es reicht nicht aus, das Schild „Schule gegen Rassismus” wie eine Monstranz vor sich herzutragen oder universelle Werte wie Toleranz und Vielfalt für sich zu proklamieren – es braucht klare Handlungsstrategien und ein aktives Eintreten gegen Antisemitismus.

Sabena Donath
© Denkfabrik Diversität
Dazu gehört auch, dass Schulen und Universitäten nicht nur reagieren, sondern in der Wissensvermittlung präventiv gegen Antisemitismus arbeiten. Das bedeutet, dass die hiesigen Wissenslücken zu gegenwartsbezogenen Ausprägungen des Antisemitismus sowie die Darstellungen aktueller jüdischer Lebensrealitäten durch die Forschung und Beschäftigung mit ihnen geschlossen werden müssen. Bildungsinstitutionen müssen hierbei mit (externen) Expert*innen zusammenarbeiten, um Lehrmaterialien weiter zu entwickeln, die Antisemitismus in all seinen Facetten beleuchten – von historischen Wurzeln bis zu aktuellen Erscheinungsformen. Hierbei steht die Jüdische Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland als verlässlicher Partner zur Seite.
Sabena Donath