Jahresbericht RIAS Hessen

Das Jahr 2023 in Zahlen

RIAS Hessen dokumentierte im Jahr 2023 insgesamt 528 antisemitische Vorfälle. Damit wurden fast dreimal (Faktor 2, 9) so viele antisemitische Vorfälle wie noch 2022 bekannt (2022: 179 Vorfälle). Insbesondere nach dem Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober wurde ein deutlicher Anstieg der RIAS Hessen gemeldeten antisemitischen Vorfälle sichtbar.

RIAS Hessen dokumentierte im Jahr 2023 einen Fall extremer Gewalt. Bei weiteren 16 Vorfällen handelte es sich um körperliche Angriffe; deren Anzahl ist im Vergleich zum Vorjahr (drei) überproportional angestiegen. Zudem wurden 33 Fälle von direkten Bedrohungen und 32 Fälle von gezielter Sachbeschädigung dokumentiert. Neben 20 Fällen von Massenzuschriften wurden 426 antisemitische Vorfälle des verletzenden Verhaltens dokumentiert, wovon 66 Versammlungen waren, auf denen antisemitische Inhalte verbreitet wurden. Hinzu kamen drei Fälle von Diskriminierungen, u.a. am Arbeitsplatz.Eine Beschreibung der unterschiedlichen Vorfallsarten ist unter https://rias-hessen.de/report/jahresbericht-rias-hessen-2023/arbeitsweise-kategoriensystem-und-datengrundlage#vorfallarten zu finden. .

Bei RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Art und Schwere (in absoluten Zahlen).

Grafik 1: Bei RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Art und Schwere (in absoluten Zahlen).

Die 528 dokumentierten antisemitischen Vorfälle, aufgegliedert nach Monaten, sind in Grafik 2 dargestellt. Von Januar bis September blieben die Vorfallzahlen relativ gleich mit einem Anstieg in den Monaten Mai und Juli mit nahezu einem gemeldeten Vorfall am Tag. Für den Zeitraum Januar bis September zeigt sich damit bereits einen Anstieg der dokumentierten Vorfälle im Vergleich zu 2022.

Im Mai 2023 fanden mehrere Veranstaltungen und Demonstrationen zur „Nakba“ statt, wobei sich der starke Anstieg an Vorfälle im Mai nicht ausschließlich aus Vorfällen im Umfeld dieser Veranstaltungen ergibt. Für den Anstieg im Juli lässt sich kein Anlass ausmachen und es zeigte sich trotzdem eine Zunahme aller Erscheinungsformen von Antisemitismus. Durchschnittlich kam es von Januar bis September 2023 zu nahezu fünf antisemitischen Vorfällen pro Woche, die an RIAS Hessen gemeldete wurden.

Die Anzahl der dokumentierten antisemitischen Vorfälle in Hessen stieg nach dem Terrorangriff durch die Hamas am 7. Oktober 2023 in einem extremen Ausmaß an. Bereits am 7. Oktober, während Terroristen in Israel noch mordeten und Israelis und in Israel lebende Menschen verschleppten, kam es zu acht (8) RIAS Hessen gemeldeten antisemitischen Vorfällen. Durchschnittlich wurden im Oktober über vier (4), im November gerundet fünf (5) und im Dezember etwa zwei (2) antisemitische Vorfälle pro Tag an RIAS Hessen übermittelt. Rund um den 9. November als Erinnerungstag an die Novemberpogrome 1938 (6. bis 12. November 2023) kam es zu insgesamt 55 dokumentierten Vorfällen (fast acht /8 Vorfälle pro Tag) und damit mehr als in der zweiten Hälfte des Monats mit 41 Vorfällen. Insbesondere am 8. und 9. November wurden RIAS Hessen mit jeweils 14 Vorfällen die meisten Vorfälle pro Tag gemeldet. Der Rückgang der Meldungen im Dezember setzte insbesondere in der zweiten Hälfte des Monats ein, während das Meldeaufkommen zwischen dem 1. und 16. Dezember mit 48 Vorfällen über dem Niveau der zweiten Novemberhälfte lag.

Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Monaten (in absoluten Zahlen).

Grafik 2: Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Monaten (in absoluten Zahlen).

Erscheinungsformen des Antisemitismus

Die an RIAS Hessen gemeldeten und verifizierten Vorfälle werden den Erscheinungsformen des Antisemitismus nach RIAS-Kriterien zugeordnet. Dabei können sich in einem Vorfall auch mehrere Erscheinungsformen verschränken (beispielsweise Post-Shoah-Antisemitismus mit israelbezogenem Antisemitismus), weshalb die Gesamtzahl der zugeordneten Erscheinungsformen größer ist als die Gesamtzahl der dokumentierten VorfälleEine Beschreibung der Erscheinungsformen des Antisemitismus ist unter https://rias-hessen.de/report/jahresbericht-rias-hessen-2023/arbeitsweise-kategoriensystem-und-datengrundlage#erscheinungsformen-des-antisemitismus zu finden. .

Für das Jahr 2023 war der israelbezogene Antisemitismus mit 299 Einträgen die mit Abstand am häufigsten dokumentierte Erscheinungsform.

Gefolgt wurde dies von antisemitischem Othering mit 184 und Post-Shoah-Antisemitismus mit 159 Einträgen. Der Anteil an modernem Antisemitismus nahm in Bezug auf die Gesamtzahl im Vergleich zum Jahr 2022 (47 von 178) ab, auch wenn die absolute Zahl auf 77 Vorfälle (von 528) 2023 anstieg. Die am seltensten dokumentierte Erscheinungsform blieb der antijudaistische Antisemitismus mit 18 Eintragungen, auch wenn auch hier, wie bei allen Erscheinungsformen, die Fallzahlen im Vergleich zum Vorjahr anstiegen.

Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Erscheinungsform (Mehrfachnennungen möglich).

Grafik 3: Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Erscheinungsform (Mehrfachnennungen möglich).

Durch die Verschränkung verschiedener antisemitischer Erscheinungsformen in einem Vorfall können Aussagen über die Überschneidungen der Erscheinungsformen für die 2023 dokumentierten Vorfälle getroffen werden. Mehr als eine Erscheinungsform des Antisemitismus traten bei 185 von 528 Vorfällen auf.

In Grafik 4 werden die Überschneidungen zwischen den Erscheinungsformen deutlich, wobei die farblich orange unterlegten Zahlen die Vorfälle der jeweiligen Erscheinungsform ohne Verschränkung angeben.

In 58 Prozent der Vorfälle, in denen israelbezogener Antisemitismus dokumentiert wurde, trat dieser alleine auf. Bei Post-Shoah-Antisemitismus war dies bei 43,6 Prozent und bei antisemitischen Othering bei 42,4 Prozent der jeweils dokumentierten Vorfälle der Fall.

Die häufigsten Verschränkungen fanden sich bei antisemitischen Othering und israelbezogenen Antisemitismus mit 62 Vorfällen, gefolgt von dem gemeinsamen Auftreten von israelbezogenen Antisemitismus und Post-Shoah-Antisemitismus mit 49 Vorfällen. Prozentual trat moderner Antisemitismus mit 40,3 Prozent am häufigsten in Verbindung mit israelbezogenen Antisemitismus auf. Die wenigen uns bekannten Vorfälle der Erscheinungsform antijudaistischer Antisemitismus traten häufig zusammen mit Post-Shoah-Antisemitismus auf.

Überschneidungen bei den Erscheinungsformen antisemitischer Vorfälle 2023 in absoluten Zahlen der jeweils zugeordneten Vorfälle. Die farblich orange unterlegten Zahlen zeigen Vorfälle, die nur einer einzigen Erscheinungsform zugeordnet wurden. Die Prozentangaben beziehen sich jeweils auf den Gesamtwert der Zeilenangabe.

Grafik 4: Überschneidungen bei den Erscheinungsformen antisemitischer Vorfälle 2023 in absoluten Zahlen der jeweils zugeordneten Vorfälle. Die farblich orange unterlegten Zahlen zeigen Vorfälle, die nur einer einzigen Erscheinungsform zugeordnet wurden. Die Prozentangaben beziehen sich jeweils auf den Gesamtwert der Zeilenangabe.

Über das gesamte Jahr 2023 gingen bei RIAS Hessen Meldungen zu allen Erscheinungsformen des Antisemitismus ein. Nach dem 7. Oktober stieg nicht nur die Zahl der dokumentierten Vorfälle an; es gab einen signifikanten Anstieg der Vorfälle von israelbezogenem Antisemitismus. Die Auswertung macht zugleich deutlich, dass nach dem 7. Oktober alle Erscheinungsformen des Antisemitismus zunahmen. Selbst bei der von RIAS Hessen in absoluten Zahlen am seltensten dokumentierten Erscheinungsform, dem antijudaistischen Antisemitismus, war für die letzten drei Monate des Jahres 2023 mit 11 Vorfällen ein Anstieg zu den bis dahin 7 dokumentierten Vorfällen zu verzeichnen.

Die an RIAS Hessen gemeldeten Vorfälle lassen darauf schließen, dass der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober in Hessen eine Gelegenheitsstruktur bot, die das Vorfallsgeschehen in erheblichen Maß prägte.

Die an RIAS Hessen gemeldeten Vorfälle vor dem 7. Oktober verdeutlichen, dass in Hessen ganzjährig alle Erscheinungsformen des Antisemitismus auftreten.

Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Monaten und Erscheinungsform (Mehrfachauswahl möglich)

Grafik 5: Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle 2023 nach Monaten und Erscheinungsform (Mehrfachauswahl möglich)

Betroffene

Von den 528 bei RIAS Hessen dokumentierten Vorfällen richteten sich 313 Fälle direkt gegen oder an eine Institution oder Einzelperson. Bei nahezu jedem zweiten Vorfall der 201 an RIAS Hessen gemeldeten Vorfälle, die sich gegen Einzelpersonen richteten, waren Jüdinnen und Juden oder Israelis betroffen (94 Fälle). In 34 Vorfällen wurden nichtjüdische Personen als jüdisch oder israelisch adressiert. In 119 dokumentierten Vorfällen, in denen es betroffene Einzelpersonen gab, fand dieser Vorfall von Angesicht zu Angesicht statt.

Ein Drittel der Vorfälle, in denen Institutionen betroffen waren, richteten sich gegen jüdische oder israelische Einrichtungen (35). Am zweithäufigsten wurden antisemitische Vorfälle an RIAS Hessen gemeldet, die Gedenkstätten oder Gedenkinitiativen betrafen (15). In 215 Fällen waren weder Einzelpersonen noch Institutionen direkt von dem dokumentierten Vorfall betroffen. Bei diesen Vorfällen handelte es sich unter anderem um antisemitische Schmierereien, Aufkleber im öffentlichen Raum und antisemitische Artikulationen im Kontext von Versammlungen, beispielsweise Demonstrationen.

Insgesamt gab es 164 Vorfälle von Angesicht zu Angesicht; bei den Vorfällen ohne unmittelbar Betroffene handelt es sich beispielsweise um antisemitische Aussagen, die öffentlich, u.a. auf der Straße oder im öffentlichen Nahverkehr, geäußert wurden, aber sich nicht speziell an eine Person richteten.

Grafik 6: Von antisemitischen Vorfällen betroffene Institutionen und Individuen, die 2023 bei RIAS Hessen dokumentiert wurden (in absoluten Zahlen).

Grafik 6: Von antisemitischen Vorfällen betroffene Institutionen und Individuen, die 2023 bei RIAS Hessen dokumentiert wurden (in absoluten Zahlen).

Tatorte

RIAS Hessen dokumentiert bei den gemeldeten Vorfällen, soweit möglich, auch den jeweiligen Tatort. Für das Jahr 2023 stellten Bildungseinrichtungen mit 127 Fällen den am häufigsten dokumentierten Tatort dar. Gefolgt wird dies von 123 Vorfällen auf der Straße und 76 antisemitischen Vorfällen, die online geschahen. Vorfälle aus dem Internet bzw. Social Media werden von RIAS dabei nur erfasst, wenn sie sich direkt gegen eine in Hessen befindliche konkrete Person oder Institution richten und auch gemeldet werden. Antisemitische Vorfälle in Chatgruppen oder Foren, die im Kontext von beispielsweise Arbeit, Schule, Universität oder Freizeit betrieben werden und nicht öffentlich zugänglich sind, werden von RIAS Hessen unter dem Tatort „Online“ erfasst.

Bei 41 antisemitischen Vorfällen war der Tatort das direkte Wohnumfeld der Betroffenen. Insbesondere diese Vorfälle, im Umfeld des privaten Rückzugsraums, werden von Betroffenen als besonders einschneidend und verunsichernd wahrgenommen. Zugleich verdeutlichen die dokumentierten Tatorte, dass es in Hessen 2023 in allen Bereichen des öffentlichen Raums zu antisemitischen Vorfällen gekommen ist.

Grafik 7: Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle nach Tatorten in 2023 (in absoluten Zahlen)

Grafik 7: Von RIAS Hessen dokumentierte antisemitische Vorfälle nach Tatorten in 2023 (in absoluten Zahlen)

RIAS Hessen wurde für das Jahr 2023 eine auffallend hohe Zahl antisemitischer Vorfälle an Bildungseinrichtungen gemeldet. Innerhalb der Kategorie Bildungseinrichtungen werden die dokumentierten Vorfälle noch weiter differenziert, d.h. nach Schulen, Hochschulen, Kitas etc. Die hohe Anzahl der Vorfälle in Bildungseinrichtungen ist insbesondere auf 56 antisemitische Vorfälle in hessischen Schulen und 51 Vorfälle an hessischen Hochschulen zurückzuführen. Antisemitische Vorfälle in Museen sind demgegenüber mit zehn gemeldeten Vorfällen geringer. Eine weitergehende Analyse und auch grafische Darstellung findet sich im Fokuskapitel II.

Politisch-weltanschaulicher Hintergrund

Der Großteil der von RIAS Hessen erfassten Vorfälle konnte keinem politischen Hintergrund zugeordnet werden. Dies liegt insbesondere daran, dass alle RIAS-Stellen den politischen Hintergrund nur dann erfassen, wenn sich dieser eindeutig aus dem Vorfall ergibt, beispielsweise wenn sich die sich antisemitisch äußernde Person selbst einem entsprechenden Milieu zuordnet oder eindeutige Symboliken erkennbar waren. Die zurückhaltende Zuordnung des politisch-weltanschaulichen Hintergrunds begründet sich darin, dass viele der an RIAS Hessen gemeldeten antisemitischen Vorfälle zwar mitunter in einem politisch-weltanschaulichen Milieu besonders prominent sind, aber auch in anderen Milieus anzutreffen sind. Wie bereits die Auswertung der dokumentierten Tatorte nahelegt, zeigt sich Antisemitismus in Hessen als alltagsprägendes Phänomen insoweit, dass Antisemitismus nicht durch das Vermeiden von bestimmten Orten oder dem Fernhalten von spezifischen Personengruppen entgangen werden kann. Antisemitismus ist ein Grundrauschen des Alltags. Dies kann sowohl negative Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl potenziell Betroffener als auch im offenen Umgang mit der eigenen jüdischen Identität haben. Insbesondere nach dem 7. Oktober verengten sich durch die Sichtbarkeit von Antisemitismus und mangelnde zivilgesellschaftliche Resonanz Räume und Möglichkeiten für jüdische Communitys und israelsolidarische Aktivitäten.

Bei den klar zu kategorisierenden VorfällenEine Beschreibung der unterschiedenen politisch-weltanschaulichen Hintergründe ist  HIER abrufbar. ließ sich eine Mehrheit von antiisraelischem Aktivismus ausmachen, mit 55 Vorfällen. 44 Vorfällen konnte ein rechtsextremer/rechtspopulistischer Hintergrund zugeordnet werden. Hervorzuheben ist der insbesondere vergleichsweise hohe Anteil an Vorfällen, die einen islamisch/islamistischen Hintergrund aufwiesen (38). Für das Jahr 2022 wurde von RIAS Hessen lediglich ein Vorfall diesem Hintergrund zugeordnet.

Von den 2023 dokumentierten Vorfällen konnten 23 dem links-antiimperialistischen Spektrum zugeordnet werden und 18 dem verschwörungsideologischen Milieu. Der politischen Mitte und dem christlichen/christlich fundamentalistischen Spektrum konnte jeweils ein Vorfall zugeordnet werden. Die Zuordnung des politisch-weltanschaulichen Hintergrundes lässt keine Mehrfachauswahl zu, weshalb beispielsweise Vorfälle im Kontext von Veranstaltungen, bei der Menschen und Gruppen aus verschiedenen Milieus und politischen Gruppierungen kooperieren bzw. bei denen kein politischer Hintergrund dominiert, als „unbekannt“ angegeben werden.

Grafik 8: Politisch-weltanschaulicher Hintergrund der von RIAS Hessen dokumentierten antisemitischen Vorfälle in 2023 (in absoluten Zahlen).

Grafik 8: Politisch-weltanschaulicher Hintergrund der von RIAS Hessen dokumentierten antisemitischen Vorfälle in 2023 (in absoluten Zahlen).

Grafik 9: Aufschlüsselung der einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugeordneten von RIAS Hessen dokumentierten antisemitischen Vorfälle in 2023

Grafik 9: Aufschlüsselung der einem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugeordneten von RIAS Hessen dokumentierten antisemitischen Vorfälle in 2023

Es kann weiterhin von einer höheren Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle ausgegangen werden, die sich direkt gegen Personen richten. Diese Vorfälle können nur dokumentiert werden, wenn sie an RIAS Hessen gemeldet werden, wofür unter anderem die Bekanntheit von RIAS Hessen entscheidend ist. Die weitere Etablierung von RIAS Hessen wird künftig zu einer Erhellung dieses Feldes beitragen.

Antisemitische Vorfälle in Hessen 2023 – Fallbeispiele

Aus den 528 dokumentierten antisemitischen Vorfällen, die sich 2023 in Hessen ereigneten, werden im Folgenden einige, der jeweiligen Vorfallsart zugeordnet, anonymisiert beschrieben. Vorfälle werden ausschließlich mit dem Einverständnis der Meldenden veröffentlicht, weil der Schutz der Betroffenen und meldenden Personen sowie Datenschutz für RIAS Hessen zentral sind.

Der Fall noch abgewandter extremer Gewalt in Hessen im Jahr 2023 betrifft vereitelte Anschlagspläne infolge einer Verhaftung, d.h. es befand sich eine schwere staatsgefährdende Gewalttat in Vorbereitung, wobei rechtsextreme und antisemitische Motive zentral waren. Es ging auch um eine „Kristallnacht“ in Hessen.

16 Vorfälle

 

Am 28. Mai 2023 kam es auf einem Konzert in Frankfurt neben weiteren Vorfällen (Othering) auch zu einem antisemitischen Angriff. Das Konzert des Musikers, der für seine BDS-Unterstützung und israelbezogenen Antisemitismus bekannt ist, wurde bereits im Vorfeld kritisiert und zu verhindern versucht. Vor Beginn hatte eine von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis getragene Kundgebung Solidarität mit Jüdinnen und Juden sowie Israel gezeigt. Während des Konzerts entrollten einige Personen als Protest Israel-Flaggen im Zuschauerraum, woraufhin sie aus dem Publikum heraus mehrfach geschubst und getreten wurden.  

 

Am 17. Oktober 2023 klingelte es abends es an der Wohnungstür eines in Gießen in einem Mehrfamilienhaus lebenden Mannes. Als er die Tür öffnete, standen zwei Personen vor ihm und forderten ihn aggressiv auf, die von ihm auf dem Balkon angebrachte Israel-Flagge zu entfernen. Während der sich entwickelnden Diskussion wurde der Betroffene antisemitisch beleidigt. Infolge der Eskalation versuchte der Betroffene, die Polizei zu rufen; dabei wurde ihm sein Handy aus der Hand gerissen, mit dem eine Person wegrannte. Als der Betroffene nach dem Versuch, es wieder zu bekommen, zurück in seine Wohnung kam, war dort die zweite Person eingedrungen und hatte die Flagge an sich genommen. Der Angreifer schlug dem Betroffenen mit der Faust ins Gesicht, warf ihn gegen einen Türrahmen und floh. Die Täter konnten gefasst werden.

 

Am 28. Oktober 2023 wurde eine Veranstaltung, die sich gesellschaftspolitischen Fragen widmete und israelsolidarisch positioniert hatte, gestört. Die störenden Personen riefen den Teilnehmenden Parolen entgegen wie „Meine Großeltern haben keine sechs Millionen umgebracht, ich muss mich nicht schuldig fühlen“ oder „Wir stehen mit den Befreiungskämpfern und den Widerstandskämpfern, nicht mit den Mördern“ sowie „Antisemitismus ist nicht so schlimm wie Rassismus und man muss sich fragen, ob Juden nicht selbst schuld wegen ihres weißen Rassismus.“ Personen, die sich schützend vor Teilnehmende stellten, wurden herumgestoßen. Eine teilnehmende Person wurde angespuckt.

 

Im Oktober und November 2023 wurden Teilnehmenden israelsolidarischer Kundgebungen in Hessen Israel-Flaggen aus den Händen gerissen oder es kam zu körperlichen Angriffen. Teilnehmende wurden gestoßen und geschubst. Menschen gingen zu Boden, erlitten Prellungen und verletzten sich.

Eine jüdische Einrichtung in Hessen erhielt an einem Wochenende im Mai 2023 zu unterschiedlichen Zeiten Drohanrufe. Es fielen Sätze wie „Ihr gehört alle ausgerottet, alle Kinder, Frauen und Männer…“; „Juden ins Gas, das macht Spaß …“; es wurde von „brennenden Synagogen“ gesprochen und sexistische Ausdrücke verwendet.

1 Aufgrund der Sicherheitslage wurde davon abgesehen, hier weitere Beispiele zu bringen.

Am 19. März 2023 wurde auf die Eingangsstufen einer Synagoge, in der sich auch ein Museum befindet, gekotet. Einen Tag später wurde vor der Synagoge ein Sticker vom rechtsextremen „III. Weg“ entdeckt: „Keine Solidarität mit Israel“.

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Am 6. Juni 2023 wurde die Erinnerungsstätte an die in der Shoah deportierten Jüdinnen und Juden aus Frankfurt am Main und die Opfer der Deportationen im Ostend beschädigt. Sechs Bodenplatten und deren Inschriften (Zitate Deportierter) wurden mit einer öligen Flüssigkeit beschmiert. 2023 wurden Erläuterungstafeln der Erinnerungsstätte zusätzlich mehrfach mit Farbe unleserlich gemacht, sowohl vor als auch nach dem 7. Oktober.

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Am 25. September 2023 wurden 14 Grabsteine auf dem alten Jüdischen Friedhof Sinntal geschändet. Am 25.9. war Rosh Hashana.

Am 24. Oktober 2023 wurde der Gedenkstein für die in der Shoah deportierten und ermordeten Juden und Jüdinnen aus Tann komplett mit blutroter Farbe beschmiert.

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Am 1. November 2023 wurde auf den ehemaligen Bunker an der Friedberger Anlage in Frankfurt,  auf ca. 6 Meter Breite und 1 Meter Höhe gesprüht: „Stop Bombing Gaza. Free Palestine. Zionist Assassin.“ Auf dem Grundstück stand bis 1938 die größte Frankfurter Synagoge.

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Am 18. Dezember 2023 wurde entdeckt, dass in Frankfurt ein Stolperstein für ein jüdisches Opfer der Shoah mit „HH“ beschmiert worden war.

426 Vorfälle

Am 24. Januar 2023 erhielt eine Bildungsinitiative, die sich mit Antisemitismus befasst, eine Mail, in der es u.a. hieß, Juden würden „arisches“ Kinderblut trinken und Juden seien „Teufelskinder“.

Am 12. Februar 2023 wurde in einem Restaurant eine Person als Jude beschimpft und den Gästen entgegengerufen, sie seien Juden und müssten sterben. Zuvor wurde vor und auch in der Gastronomie von derselben Person der „Hitler-Gruß“ gezeigt.

Am 5. März 2023 äußerte eine Person gegenüber einem staatlichen Beamten: „Diese Scheiß-Ukrainer, die sind nichts anderes wie die *Zigeuner3* und Juden. Wenn es nach mir gehen würde, würde ich Hitler wiederbeleben, sodass er sich um die kümmern kann.“

Am 3. Mai 2023 war eine Person im öffentlichen Nahverkehr mit einem Gepäckstück unterwegs, auf dem neben anderen Aufklebern auch ein Sticker mit der Flagge des Staates Israel zu sehen war. Eine zugestiegene Gruppe rief, als die Endhaltestelle erreicht wurde: „Schnell raus, bevor ich noch mit verbrannt werde!“; außerdem: „Fuck Israel, free Palestine“. Die meldende Person wurde dabei von der Gruppe noch ein Stück verfolgt.

Am 22. Juni 2023 wurden in der Nähe jüdischer Einrichtungen in einer Großstadt in Hessen Zettel angeklebt: „Reopening Dachau … genießt es“

Am 8. Oktober 2023 unterhielten sich in einem Bistro zwei Personen. Beide lachten, als eine Person sagte: „Es ist schon großartig, dass Jungs auf Motorrollern die israelische Armee überrumpelt haben.“ Die Antwort: „ „Ja, den Juden kann selbst ihr Geld nicht mehr helfen.“

Am 11. Oktober 2023 kündigte eine jüdische Gemeinde zusammen mit einer Bildungseinrichtung auf Social Media eine israelsolidarische Kundgebung an. Nach kurzer Zeit wurde die Kommentarspalte geschlossen, nachdem immer mehr Kommentare mit dem Inhalt „Intifada“ und „From the river to the sea …4„ oder „Yallah Hamas!“, dazu Herzchen und Feuersymbole erschienen. RIAS ordnet dies folgendermaßen ein: Neben der Verherrlichung der Terrororganisation Hamas findet sich der Begriff Intifada, der auch als Aufruf zur Gewalt und zur Zerstörung des israelischen Staates zu verstehen. Die Parole „From the river …“, auf Deutsch: „Vom Fluss bis zum Meer – Palästina wird frei sein!“ bezieht sich auf das komplette Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem östlichen Mittelmeer, inklusive des heutigen Staates Israel.  Für einen jüdischen Staat gibt es in dieser Idee keinen Raum; die angestrebte Lösung ist hier ein Naher Osten ohne Israel.

Am 11. Oktober 2023 kam es aus einer verbotenen propalästinensischen Demonstration heraus, zu Beschimpfungen von Passanten und Einsatzkräften wie „Scheißjuden“ „Ich scheiß auf Israel, ich scheiß auf die Juden!“

Am 15. Oktober 2023 wurde an einem israelsolidarischen Infostand in Mittelhessen von einem Passanten verlangt, er wolle einen Juden sprechen und wissen, was Juden denn zur Christenverfolgung vor 2000 Jahren zu sagen hätten und ob sie immer noch Jesus als Gotteslästerer darstellten.

Am 15. Oktober 2023 wurden in einer Unterführung in Marburg Plakate der nach Gaza verschleppten israelischen Geiseln übermalt oder abgerissen.

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Am 16. Oktober 2023 wurde eine Schmiererei in einem Theater entdeckt: „Wer vergiftet die Brunnen und entführt die Kinder? Es ist der Jude, deswegen Heil Hitler!“

Am 31. Oktober 2023 organisierte eine jüdische Hochschulgruppe gemeinsam mit einer israelsolidarischen Gruppe an einer Universität einen Infostand. Eine Person blieb stehen und sagte: „Israel hat das Massaker vom 7. Oktober auf dem Nova-Festival doch selbst verübt. Weiß man!“

Am 2. November 2023 wurden auf einem Campus und in der dazugehörigen Mensa in Mittelhessen ein Flugblatt verteilt: „Für einen Massenaufstand gegen die Besatzung auf beiden Seiten der Grünen Linie. … Ende und Rückgängigmachen des Landraubs durch zionistische Siedler.“

Am 14. Dezember 2023 wurden auf einen Bürgersteig sowie Bänke in Gießen teils auf ca. 2 Meter Breite und 1,50 hoch mit gelber Farbe „Kill Zionists“ gesprüht.

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In Hessen wurden seit dem 7. Oktober 2023 23 Fälle bekannt, in denen von Privatbalkonen und  von städtischen Masten sowie während israelsolidarischen Versammlungen Israel-Flaggen gestohlen und teils auch noch beschädigt wurden.

2 Weitere Beispiele aus Universitäten finden sich im Fokuskapitel II.

3 Der Begriff ist verletzend und soll verdeutlichen, wie tiefgreifend Vorurteile gebündelt wurden.

4 RIAS Hessen schreibt nicht jedes Mal „From the river to the sea, Palestine will be free” aus. Drei Punkte zeigen an, dass der komplette, Israel delegitimierende, Spruch gerufen oder gezeigt wurde.

5 Weitere Vorfälle aus Universitäten und Bildungseinrichtungen finden sich im Fokuskapitel II.

66 Vorfälle

Am 30. Januar 2023 zogen Demonstranten durch eine Stadt in Mittelhessen. Eine Person zeigte den „Hitler-Gruß“. Es wurden zudem antisemitische Plakate gezeigt: „Great Reset“ als Schlagwort, dass eine „globale Elite“ in Politik und Wirtschaft eine globalisierte Diktatur anstrebe; ein verfremdetes Foto von George Soros diente als personalisierte Chiffre dieser Erzählung. Die anwesende Polizei schritt nicht ein.

Anlässlich der 75. Jahrestags der Gründung Israels wurde am 15. Mai 2023 an einem Institut einer Universität in Mittelhessen eine „Nakba“-Ausstellung eröffnet. Während der Eröffnungsansprachen wurde Israel „Landraub“ sowie die „Eliminierung“ der „Eingeborenen“ vorgeworfen. „Die“ Zionisten, so der Kern des Vorwurfs des „Landraubs“, hätten durch ihre Einwanderung seit dem 19. Jahrhundert Palästinensern Land gestohlen. Jüdinnen und Juden, so die Folie, seien Fremde, Kolonisatoren und daher sei der jüdische Staat kein legitimes Gebilde.

Am 22. Juli 2023 wurde ein Info-Stand eines palästinensischen Vereins aufgebaut. Dort wurden u.a. Holzarbeiten dargeboten, die allesamt ein Palästina ohne Israel darstellten. Des Weiteren kam es in Wort, Bild und Schrift zur Ablehnung der Existenz Israels durch die Parole „Vom Fluss bis zum Meer …“

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Auf dieser Versammlung wurde auch ein israelisch-jüdischer Gastronom namentlich genannt und als Mitglied der „israelischen Besatzerarmee“ bezeichnet und der kulturellen Aneignung der Küche Palästinas beschuldigt. Es gibt mehrere von dem Betroffenen betriebene Restaurants, die ebenfalls benannt wurden. Nach dem 7. Oktober 2023 mussten der Gastronom und seine Frau viele Formen verletzenden Verhaltens (Verleumdungen, Telefonanrufe und beleidigende Rezensionen der gastronomischen Angebote) sowie Angriffe in ihrem Wohnumfeld erleiden.

Am 12. September 2023 kam es zu einer Gegendemonstration während eines Israel-Tages. Es wurde ein Transparent hochgehalten: „Apartheid exists – Palestine resists“ und es wurde gerufen, die Entwicklung des Staates Israel sei Siedlungskolonialismus. Mehrfach wurde „From the river to the sea …” skandiert, ebenfalls: „Von Frankfurt bis nach Gaza, Yallah Intifada!“ und „Hamas ist geil!“

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Am 14. Oktober 2023 wurde auf einer propalästinensischen Demonstration ein Schild hochgehalten: „‘I stand with Israel‘ =I stand with Apartheid / I stand with Ethnic Cleansing / I stand with Child Murderer“

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Am 28. Oktober 2023 kam es zu einer propalästinensischen Versammlung. Es wurden Parolen gerufen wie: „Kindermörder Israel“, „Yallah Intifada, von XX bis nach Gaza“ oder „They play all the antisemite card, we suffer“, „From the river to the sea …“ „It is not war its Colonialism“. Plakate zeigten u.a. Parolen wie: „Exist Reist Return Decolonize Palestine“, „Deutschland ist erneut an einem Genozid beteiligt!“ Redner sagten, dass die „Nakba seit 75 Jahren andauert und der Kolonialismus hat vor 75 Jahren begonnen.“  Es hieß, am 7. Oktober seien „die Opfer zum Täter und zu Terroristen gemacht worden“. Am Rande der Kundgebung wurde für ein Kalifat geworben.

Am 3. November 2023 wurde auf einer propalästinensischen Demonstration u.a. folgendes Schild gezeigt: „Keep the world clean (Davidstern im Mülleimer)“. Gerufen wurde „Kindermörder Israel!“ Personen, die sich vom Straßenrand aus gegen diese Parolen wandten, wurde mit „Sie sind wohl Jude!“ geantwortet. Während der Demonstration wurde auf Arabisch gerufen: „Unser Leben, unser Blut wird für dich geopfert“, anschließend „Free Palestine!“ Teilnehmende trugen Taschen mit der Handala-Figur.1 Auch wurden Tücher und Taschen mit einer Landkarte mitgeführt, auf der Israel nicht existierte.

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Am 27. November 2023 wurden in einem Institut an einer Universität mehr als 70 Plakate einer linken/antiimperialistischen Vereinigung angebracht, die eine von der Universitätsleitung untersagte Veranstaltung bewarben, das Existenzrecht Israels negierten und „eine Welt ohne Zionismus“ propagierten.

1 https://www.belltower.news/die-bds-kampagne-gegen-israel-oder-die-taktik-der-diffusitaet-85185/

20 Vorfälle

Am 17. Januar 2023 erhielt eine zivilgesellschaftliche Einrichtung ein Schreiben, in dem dieser zionistische Propaganda und die Verbreitung eines zionistischen Antisemitismusnarrativ unterstellt wurde. Auch wurde die Shoah relativiert und der Bundesregierung eine „Zionifizierung Deutschlands“ unterstellt. „Zionisten“ würden an der Weltherrschaft arbeiten und „Globalisten“ absichtlich Krisen wie Corona herbeiführen. Dieselbe Mail ging am 24. Februar an einem Universitätsinstitut ein.

Die Anzeige der zivilgesellschaftlichen Einrichtung wurde von der zuständigen Staatsanwaltschaft abgewiesen. Es handele sich nicht um Antisemitismus, sondern die Aussagen richteten sich gegen den Staat Israel, weshalb das jüdische Volk nicht betroffen sei. Der Beschuldigte sei an einem wissenschaftlichen Austausch interessiert.

2023 wurden (dies ist die RIAS Hessen bekannt gewordene Zahl) zehn Mal Flugblätter aus dem Umfeld von Attila Hildmann in Briefkästen gefunden. Eines war überschrieben mit „Wer reGIERt Deutschland?“ Die abgebildeten Politiker und Politikerinnen wurden mit Kippot und in Begleitung von Rabbinern oder dem israelischen Botschafter dargestellt. Ein zweites zeigte „Ministerpräsidenten der Bundesländer“, mit teils aufmontierten Kippot, ebenfalls in Begleitung von Rabbinern oder dem israelischen Botschafter und vor einer Israelflagge.

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