Jahresbericht RIAS Hessen
Beobachtungen des Verbandes Jüdischer Studierender Hessen Antisemitismus an hessischen Hochschulen
„Wenn ich mein Arbeitszimmer verlasse, betrete ich Feindesland“, soll der ehemalige Generalstaatsanwalt in Hessen, Fritz Bauer, einmal gesagt haben. Er bezog sich dabei auf sein Arbeitsumfeld im Frankfurter Gericht, das weiterhin mit vielen Staatsanwälten aus der Nazizeit unterwandert war, nur weniger als zwei Jahrzehnte nach dem Holocaust. Unter Anderem verdeutlicht dies die nur langsam voranschreitende und mühevolle Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch den unermüdlichen Einsatz von einzelnen Personen wie Bauer, der als Jude und Exilant in die Bundesrepublik Deutschland zurückkehrte und eine integrale Aufgabe bei der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen einnahm. Es sollten noch weitere Dekaden vergehen, bis die breite deutsche Öffentlichkeit über den Holocaust nicht nur Bescheid wusste, sondern sich in ihr eine Erinnerungskultur und ein gesellschaftlicher Konsens des „Nie Wieder“ etablieren konnte. Heute ist der Antisemitismus öffentlich verpönt, die jüdischen Gemeinden erhalten große politische Unterstützung und finden dort Gehör. Die Verhältnisse, die heute vorherrschen, sind wohl kaum mit den Zuständen in der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre zu vergleichen, in welcher ehemalige NSDAP-Mitglieder in allen Schichten der Gesellschaft unbestraft Amtspositionen bekleiden konnten und kaum eine gesellschaftliche Sensibilität für Antisemitismus vorherrschte.
Und dennoch muss ich immer wieder, wenn ich als eine in der Öffentlichkeit auftretende Person den Campus betrete, an Bauers Zitat denken. Ich habe jedes Mal ein mulmiges Gefühl, die Universität zu betreten und mir ist bewusst, dass der Grund hierfür eine nicht abstrakte Gefahr ist. Anderen jüdischen Studierenden geht es wohl ähnlich, denn nicht zuletzt zeigte der Angriff auf Lahav Shapira in Berlin: die Gewaltaufrufe und Radikalisierung in den sozialen Netzwerken bleiben nicht bei Worten.
Auf dem Campus der Goethe Universität Frankfurt dauerte es keine vier Wochen, bis Studentenorganisationen den fürchterlichen Krieg in Gaza zum Anlass nahmen, nicht etwa, um zu gedenken, oder politische Forderungen nach der Freilassung der Geiseln, der Kapitulation der Hamas oder humanitärer Hilfe für die leidende Zivilbevölkerung zu stellen, sondern um blanken Hass und Hetze zu verbreiten. Es wurde nicht nur Israel das Existenzrecht abgesprochen. Es wurden Terrororganisationen wie die PFLP verherrlicht und mit Personen, die offen den Hamas-Terror leugnen, Solidarität bekundet. Selbst die Existenz des jüdischen Volkes wurde in Frage gestellt. Das alles unter dem perfiden Vorwand, dass man für universelle Menschenrechte einstehe und mit der Behauptung, man selbst hätte „die richtigen Lehren“ aus der NS-Vergangenheit gezogen. Das alles auf einem Campus, der auf dem einst der Familie Rothschild gehörenden, durch die Nazis enteigneten, Gelände errichtet wurde. Alles nur wenige Meter in Entfernung vom IG Farben Gebäude, in welchem in der NS-Zeit die Verwaltungsrats-Sitzungen des ehemaligen Chemie- und Pharmaunternehmens stattfanden, in welchen über den Bau der Fabrik I.G. Auschwitz und der Einsatz von Sklavenarbeit entschieden wurde.
Es bleibt aber nicht bei vereinzelten, radikalen Studentenorganisationen, es sind auch Dozierende, die mit am Strang ziehen. Und um hierfür Beispiele zu finden, muss man nicht auf der anderen Seite des nordatlantischen Ozeans suchen. Es gibt auch an hessischen Hochschulen Dozierende oder wissenschaftliche Mitarbeitende, die öffentlich die israelischen Geiseln entmenschlichen, die im terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober eine vermeintlich richtige und praktische Umsetzung dekolonialer, akademischer Theorie sehen und somit ihre Verachtung für universale Menschenrechte im Allgemeinen und Opfer von Islamismus, insbesondere Juden und Israelis im Partikularen offenbaren.
An manchen Universitäten finden jüdische Studierende selbst bei studentischen Amtsträgern, die sich der Antidiskriminierung verpflichtet haben, keine Unterstützung, im Gegenteil: ausgerechnet an diesen Stellen werden ihre Erfahrungen klein geredet oder abgesprochen. Es geht noch schlimmer, wie ein Fall an der Uni Kassel zeigt, wo ein Student, der beim AStA für das Referat für Soziales und Antidiskriminierung tätig war, in einem seinem Amt zugewiesenen Bürozimmer Bilder von Leila Khaled aufhängte, die als Terroristin für Flugzeugentführungen mit verantwortlich und nach eigenen Aussagen eine Hitler-Bewunderin war. Wie sollen jüdische und israelische Studierende einer solchen Person ihr Vertrauen schenken können?
Weiterhin lässt sich beobachten, dass die radikal-antizionistischen Bewegungen das anfängliche Momentum offener und martialischer Hetze in eine langfristige Arbeit konsolidieren wollen, die darauf ausgerichtet ist, die Mitte der Gesellschaft zu erreichen und dort ihre menschenverachtenden Ideologien salonfähig zu machen. Es wird verstärkt ein moderates Image gepflegt und die Akquise potenziell neuer Anhänger durch Treffen mit vermeintlich harmlosen sozialen Aktivitäten angestrebt. Gleichzeitig wird hinter verschlossenen Türen koordinierter und systematischer gearbeitet: so werden Veranstaltungen zum israelbezogenen Antisemitismus von koordinierten Gruppen gestört, wie beispielsweise die Buchvorstellung „Judenhass Underground“ mit Nicholas Potter, Stefan Lauer und Tom Uhlig am 30. Januar 2024 in der Goethe-Universität.
Langfristig – und zwar bereits vor dem 7. Oktober – wird zudem versucht, über demokratische Prozesse innerhalb der studentisch-autonomer Gremien über die Köpfe jüdischer Studierende hinweg zu entscheiden, wie ein Beispiel an der Universität Marburg zeigt: Auf Antrag der SDS wurde im Mai 2023 im Studentenparlament (StuPa), dem höchsten studentischen Gremium, trotz Protests der örtlichen jüdischen Studentengruppe Shalom Marburg, die IHRA Definition Antisemitismus abgelehnt und mit der umstrittenen Jerusalem Declaration of Antisemitism ersetzt. Erst im Dezember 2023 desselben Jahres wurde abermals für die IHRA die Unterstützung im StuPa ausgerufen.
Es wird zudem systematisch versucht, israelsolidarische Gruppen aus dem öffentlichen Diskurs zu drängen, indem man sie zum Beispiel pauschal als „Rassisten“ abstempelt. Auch vor Vandalismus sieht man nicht ab, wie ein Fall vom 11. Januar 2024 am Random White House in Frankfurt zeigt, deren Betreiber für ihre israelsolidarische Haltung bekannt sind: An der Wand des Gebäudes am Westend-Campus der Goethe Universität wurden Graffiti mit der Aufschrift „Free Palestine from German Guilt“ und „Yallah Intifada“ vorgefunden.
Ziel solcher Kampagnen ist es, israelsolidarische Gruppen und Individuen sowie jene jüdischen Personen, die das Existenzrecht Israels nicht ablehnen, aus dem öffentlichen Diskurs zu drängen. Damit geht auch die Übernahme der Deutungshoheit über den Antisemitismusbegriff, jüdische Geschichte, jüdische Identität und den vermeintlich richtigen Lehren aus der NS-Zeit einher. Wenn die Diskursopponenten aus dem Weg geräumt sind, kann man sich in reinem Gewissen und ohne nervige Hintergrundgeräusche zurücklehnen und über gravierende Menschheitsverbrechen der Hamas hinwegsehen oder gar diese rechtfertigen.
Was machen die Uni-Leitungen bei solchen beunruhigenden Ereignissen? Unterschiedliche Reaktionen sind zu beobachten: es gibt jene, die sich sehr schnell mit jüdischen und israelischen Studierenden solidarisiert haben, die auf diese aktiv zugehen, bis hin zu jenen, die von Unsicherheit und Ängsten geplagt sind, eine „falsche Position einzunehmen“. Es sind leider viele schwache Positionierungen zu beobachten. Die Hochschulleitenden – insbesondere jene, die wie an der FU in Berlin ihre schwachen Haltungen zum Antisemitismus mit Schutz der akademischen Freiheit begründen wollen – scheinen sich nicht immer der Gefahr für die akademische Freiheit bewusst zu sein, wenn einzelne radikale Akteure und Gruppierungen systematisch den Ausschluss von Menschen aufgrund ihrer politischen Meinung oder gar Identität anstreben. Häufig agieren sie dabei als Ankläger, Beweisführer und Richter zugleich, wie es der Historiker Volker Weiß in einem SZ-Artikel über den Eklat am Berliner Kunstmuseum „Hamburger Bahnhof“ formulierte, als eine Lesung zu Hannah Arendt abgebrochen werden musste.
Auch sind sich viele im universitären Leben nicht über die Situation der jüdischen Studierenden am eigenen Campus im Klaren.
Es kommen wieder die Fragen auf, ob man in Deutschland eine Zukunft hat. Dass die eigene jüdische oder israelische Identität versteckt wird, gilt seit Langem bei den meisten als Konsens. Einzelne Studierende haben sich entschieden, das Semester ruhen zu lassen. Andere haben gar entschieden, sich exmatrikulieren zu lassen, weil sie die Hoffnung an gewissen Universitäten gänzlich verloren haben. Viele berichten uns im Verband über ihre Sicherheitsbedenken, an unseren Veranstaltungen teilzunehmen. Bei vielen Fällen wird uns darüber berichtet, dass der Freundeskreis aufgrund der Radikalisierung und Übernahme antidemokratischer bis hin zu terrorverherrlichenden Haltungen auf sozialen Netzwerken kleiner geworden ist. Und so fühlen sich viele jüdische und israelische Studierende ernüchtert, enttäuscht und isoliert. Mangelndes Verständnis für die Lage und die Sorgen sowie mangelnde Unterstützung tragen dazu bei, dass viele jüdische Studierende sich an Uni-Campus in einem nicht-freundlichen Milieu wiederfinden.
Es zeigen sich aber auch andere Anzeichen: es gibt Unterstützung aus israelsolidarischen Gruppen. Es gibt auch einzelne Organisationen, die offen Solidarität bekunden und Freunde, die nach dem Ergehen fragen. Und die jüdische Community kommt sich näher, hält enger zusammen und wünscht sich eine bessere Zukunft in Deutschland. Man möchte sich diese von niemandem nehmen lassen.
Daniel Navon
(Vorstandsmitglied Verband Jüdischer Studierender Hessen)