Jahresbericht RIAS Hessen
Grußwort
Der Terrorangriff der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023, bei dem mehr als 1.400 Menschen getötet und mehr als 200 Personen in den Gaza-Streifen verschleppt wurden, ist eine Zäsur, die sowohl in Israel aber auch bei uns in Hessen massive Spuren hinterlassen hat und noch immer nach sich zieht.
Umso mehr ist unsere Solidarität mit Israel gefordert und umso deutlicher bleibt die Forderung nach einer sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller Geiseln durch die Hamas. Auch gilt es, die Stimme zu erheben, wenn in Deutschland und somit auch vielerorts in Hessen lauthals antisemitische Stereotypen und Haltungen geäußert und Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Das Schweigen so vieler gesellschaftlicher Gruppen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft sowie Menschenrechtsorganisationen zu den barbarischen Verbrechen der Hamas an israelischen Babys, Kindern, Frauen und Männern, aber auch zu antisemitischen Vorfällen in Hessen, ist unerträglich laut und nicht hinnehmbar. Denn es zeigt, dass die Solidarität in unserem Land scheinbar doch nicht für jeden Menschen gilt und diese Differenzierung offenbart die Scheinheiligkeit so mancher Aktivisten, die auch vor einer Täter-Opfer-Umkehr nicht scheuen und Betroffene in unserem Land nicht schützen und für diese ihre Stimme erheben.
Die Zahlen vor RIAS Hessen und RIAS Bund zeigen einen deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober 2023. So sind allein bei RIAS Hessen 333 Vorfälle in den wenigen Wochen bis zum Jahresende gemeldet worden, ein Anstieg um mehr als 70 Prozent gegenüber dem Zeitraum vor dem Hamas-Terror. Bei der Polizei Hessen wurden in einem Monat mehr als 380 Straftaten auf mehr als 260 Veranstaltungen zum Nahost-Konflikt verzeichnet. Und dies sind nur die offiziellen Zahlen, die bei den Melde- und Beratungsstellen und Sicherheitsbehörden eingingen. Die Dunkelziffer ist weit höher und diese Entwicklung ist höchst alarmierend. Es darf nicht sein, dass antisemitische Vorfälle und Haltungen an den Schulen, den Universitäten, auf den Straßen und bei Sportvereinen geäußert und jüdische Kinder und Jugendliche, Studierende und Bürgerinnen und Bürger angegriffen werden oder dass sich diese aus Angst zurückziehen und ihre Identität und Religion verleugnen.
Aus vielen Gesprächen weiß ich um das Engagement der Beratungs- und Meldestellen, die bereits selbst an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Ihnen gilt mein besonderer Dank, da sie Betroffene unterstützen und ihnen helfen. Dennoch ist es nicht die alleinige Aufgabe dieser Institutionen und Organisationen. Es ist und bleibt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, Solidarität zu zeigen und engagiert gegen jede Form von Antisemitismus aufzustehen. Dazu zählt auch, dass unheilvolle Allianzen benannt werden, die den israelbezogenen Antisemitismus offen zur Schau stellen und für ihre Zwecke nutzen. Nicht jeder, der vermeintlich für die Menschenwürde eintritt, meint damit auch jeden Menschen unabhängig von seiner Herkunft, Religion oder Identität. So werden mitunter die Morde, die Entführungen und brutalen Vergewaltigungen infrage gestellt oder gar abgestritten und die barbarischen Terrorangriffe auf unschuldige Familien als erfolgreiche Widerstandsaktionen verherrlicht. Von den Vorfeldorganisationen des palästinensischen Terrors bis hin zu linksextremistischen Solidaritätsgruppen aber auch Intellektuellen wie Judith Butler wird die Geschichte des 7. Oktober zunehmend umgedeutet. Dies ist ebenso verabscheuungswürdig wie der Jubel über die Verbrechen selbst. Ich erwarte, dass entschieden gegen die Verharmlosung und Verleugnung des Hamas-Terrors vorgegangen wird und alle Mittel des Rechtsstaates ausgeschöpft werden.
Das laute Schweigen muss überwunden werden, wenn eine Gesellschaft es ernst meint mit der Forderung „Nie wieder ist jetzt!“. Es ist notwendig, die Vorfälle zu benennen und dagegen vorzugehen, anstatt sie unter den Teppich zu kehren und sich hinter vermeintlichen politischen Diskursen zu verstecken.
Wenngleich die Terrorangriffe der Hamas und die Folgen vermeintlich alle anderen Vorfälle in den Schatten zu stellen mögen, so sollte dennoch darauf hingewiesen werden, dass im Mai 2023 das Konzert von Roger Waters in der Frankfurter Jahrhunderthalle stattfand. Leider ist es nicht gelungen, das Konzert im Vorfeld zu unterbinden, aber umso wichtiger war es, aufzustehen und gegen Roger Waters zu demonstrieren. Aber auch die Aufarbeitung der documenta fifteen und die Weiterentwicklung der Kunstausstellung ist noch nicht abgeschlossen, da die Auseinandersetzung mit dem BDS immer wieder auf die Tagesordnung tritt. Somit wird auch dieses Jahr geprägt sein vom Umgang der Kunst- und Kulturschaffenden sowie der Verantwortlichen mit antisemitischen Einstellungen in der Szene und der Gesellschaft.
Uwe Becker
(Beauftragter der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus)