Fokuskapitel I
Der Terrorangriff der Hamas gegen Israel am 7. Oktober und seine Folgen in Hessen
Die Bilder des Terrorangriffs der Hamas auf israelisches Gebiet am 7. Oktober 2023 sind, vergleichbar der Bilder von 9/11, bei Menschen sofort abrufbar. Zimmer in Kibbuzim mit Blutlachen auf dem Boden und Blutspuren an den Wänden – auch Kinderzimmer. Videoaufnahmen, in denen zu sehen ist, wie vor allem junge Menschen auf einem von der Hamas überfallenen Musikfestival um ihr Leben rennen. Entkleidete, blutende Frauen auf weißen Pick-Up-Trucks. Die erstarrten Gesichter der Jüdinnen und Juden, der Israelis und auch der Studierenden aus anderen Ländern, die vor Ort das Grauen sahen. Mittlerweile sind die Berichte der Überlebenden, der befreiten Geiseln und die Rekonstruktionen des Terrorangriffs Teil eines partiellen kollektiven Gedächtnisses geworden. Dass sich Perspektiv- und Empathiedivergenzen auf das Massaker und seine Folgen für die jüdische Community aufgetan haben, ist leider ein Fakt.
Der Terror des 7. Oktobers führte nicht zu einer breiten gesellschaftlichen Solidarisierung mit den Opfern oder deren Angehörigen. Stattdessen brach eine geradezu hemmungslose Welle des Antisemitismus los, weltweit, aber auch in Hessen. In dem Zeitraum vom 7. Oktober bis zum 31. Dezember 2023 wurden RIAS Hessen 333 antisemitische Vorfälle gemeldet. Trotz der antisemitischen Vorfälle in Hessen blieb eine breite gesellschaftliche Solidarisierung der Zivilgesellschaft mit Jüdinnen und Juden aus. Jüdinnen und Juden in Hessen erlebten, wie auf das Massaker des 7. Oktobers, aber auch auf den grassierenden Antisemitismus weithin mit Schweigen und „Ja, aber“ reagiert wurde.
7. Oktober 2023: Eine jüdische Gemeinde in Hessen erhielt einen Anruf: „Ihr Scheißjuden habt es nicht anders verdient“.
Erste spontane Kundgebungen in Solidarität mit den Opfern des Terrors fanden sich zusammen. In Südhessen wurden Teilnehmenden Israelfähnchen aus den Händen gerissen. In Nordhessen wurden die Menschen, die aus Solidarität mit Israel und den Betroffenen zusammengekommen waren, angeschrien: „Schämt ihr euch nicht, was soll diese Scheiß-Flagge!“ Eine Person rief in Richtung der Kundgebung, dass „das, was dort passiert sei, bald auch hier passieren“ würde.
8. Oktober 2023: Eine Schweigeminute für die 1.200 ermordeten und mehr als 240 Geiseln wurde von einer Person im Vorübergehen kommentiert: „Schweigeminute für Israel und ein paar tote Juden, schon peinlich, digga!“
9. Oktober 2023: Bei einem israelisch-jüdischen Gastronomen ging ein Anruf ein. Der Anrufende äußerte sich so: „Hitler hat vergessen, euch zu vergasen!“
Jüdische Gemeinden in Hessen und israelische sowie jüdische Einzelpersonen wurden über Anrufe, direkte Nachrichten in sozialen Medien oder Einwürfe in Briefkästen immer wieder antisemitisch angegangen, belästigt und bedroht. Derartige antisemitische Anrufe, Nachrichten, E-Mails, Wurfsendungen wurden auch vor dem 7. Oktober 2023 immer wieder an RIAS Hessen gemeldet. Es zeigt sich demnach eine Kontinuität in Hessen, wobei sich mit dem 7. Oktober eben kein Rückgang, sondern ein Anstieg der an RIAS Hessen gemeldeten antisemitischen Vorfälle zeigte.
Der 7. Oktober 2023 stellte auch in Hessen offensichtlich keine Gelegenheitsstruktur für Solidarität und Empathie dar, sondern für Antisemitismus, die in massivster Weise genutzt wurde.
Angefangen hatte es am Tag des Terrorangriffs, und auch danach wurden RIAS Hessen immer wieder antisemitische Vorfälle gemeldet, die im Kontext von Solidaritätsbekundungen mit Israel, den Ermordeten und Geiseln stattgefunden haben. Dies betraf neben Vorfällen bei Kundgebungen oder Schweigeminuten auch Infostände, Plakate und Aktionen, die auf die am 7. Oktober Ermordeten und insbesondere die entführten Geiseln aufmerksam machten. Auch das Hissen und Zeigen der israelischen Flagge wurde gestört und zerstört.
Am 15. und am 31. Oktober 2023 kam es an Informationsständen von Ortsgruppen der Jugendorganisation der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft, einmal in Kooperation mit einer jüdischen Studierendengruppe, zu unterschiedlichsten antisemitischen Äußerungen gegenüber den Menschen an den Infoständen. Die Äußerungen reichten von allgemeinen antijudaistischen Ansprachen bis zur Rechtfertigung des Verteilens von Süßwaren am 7. Oktober in Berlin, als „Stimme der Unterdrückten“, und dass man die Freude über das Massaker doch verstehen müsse. Eine andere Person äußerte, dass die „Hamas die wahren Freiheits- und Friedenskämpfer“ seien.
Plakate, die auf die von der Hamas verschleppten Geiseln aufmerksam machten, wurden vielfach heruntergerissen, die Gesichter der Geiseln herausgekratzt, überklebt oder beschmiert. So auch in einer südhessischen Stadt am 9. November 2023, dem Gedenktag zur Reichspogromnacht 1938. Das Plakat für die Deutsch-Israelin Shani Louk wurde mit „Genocide 10000 killed“ und „Free Gaza (Herz)“ beschmiert. Die 23-jährige Shani war auf dem Supernova Festival gewesen und von Terroristen wohl noch am 7. Oktober ermordet worden.
Insgesamt wurden 23 Vorfälle bekannt, bei denen nach dem 7. Oktober 2023 Israelflaggen zum Ziel wurden.
Am 23. Oktober 2023 wurden städtische Mitarbeiter, als sie dabei waren, eine Israelflagge zu hissen, von einer vorbeikommenden Person unter anderen mit den Worten angeschrien: „Saujuden!“ und „Warum hängen wir diese jüdische Flagge auf, wir sind doch keine Arschlecker der Juden“.
Es handelt sich dabei um ein Beispiel aus 13 dokumentierten Vorfällen, bei denen israelische Flaggen an öffentlichen Gebäuden Ziel des Vorfalls waren. Die anderen zehn Fälle beinhalten den teils wiederholten Diebstahl, oftmals zusammen mit einem Verunglimpfen der Flagge. Darunter sind fünf dokumentierte Vorfälle, bei denen Israelflaggen im Kontext von Solidaritätsveranstaltungen zum Ziel wurden, beispielsweise, indem sie abgerissen und unter Rufen wie „Mörderstaat Israel!“ darauf herumgetrampelt wurden. Bei den anderen fünf Einträgen handelt es sich um Vorfälle, die im Wohnumfeld von Betroffenen stattgefunden haben. Teilweise kam es dabei zur Veröffentlichung persönlicher Daten der Betroffenen durch die Polizei und anschließend der Presse, während in anderen Fällen der Kontakt mit der Polizei von den Betroffen positiv wahrgenommen wurde.
Die Auswertung der von RIAS Hessen dokumentierten antisemitischen Vorfälle des Jahres 2023 ab dem 7. Oktober zeigt, dass insgesamt 24 Vorfälle im direkten Wohnumfeld von Betroffenen an RIAS gemeldet wurden. So wurde Anfang November 2023 ein zum Haus einer jüdischen Familie gehörender Anbau mit einem Hakenkreuz beschmiert. Es ist von einer gezielten Markierung des Hauses auszugehen.
Andere Orte, an denen es zu einer signifikanten Anzahl dokumentierter antisemitischer Vorfälle seit dem 7. Oktober 2023 kam, sind öffentliche Gebäude mit 22 dokumentierten Vorfällen und 19 in öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese umfassen unter anderem gut vernehmbare Gespräche zwischen Fahrgästen, in denen mit Bezug auf Israel Hitler als sehr intelligent gepriesen wurde. Es gab keine Reaktionen von Fahrgästen. Bei einem anderen Vorfall sagte eine Person mit Bezug auf den Terrorangriff am 7. Oktober: „Jetzt wird den Rothschilds mal gezeigt, wo der Strick hängt“. Auch bei diesem Vorfall kam es zu keinen Reaktionen von anderen Fahrgästen.
Weitere 14 dokumentierte antisemitische Vorfälle ab dem 7. Oktober fanden an Gedenkorten statt; 40 Vorfälle online. Die mit Abstand meisten an RIAS Hessen gemeldeten Vorfälle wurden jedoch auf der Straße (84) und in Bildungseinrichtungen (94) dokumentiert. Wie in der Auswertung des gesamten Jahres 2023 zeigen sich in der Statistik von RIAS Hessen Bildungseinrichtungen auch für den Zeitraum ab den 7. Oktober mit 94 Vorfällen als häufigster Tatort.
In der Woche nach dem Terrorangriff wurde in einer Schule ein Film gezeigt, in dem Kinder ihren Hass auf Juden und Israel ausdrückten. Dieser Film wurde von der Lehrkraft weder kritisch eingeordnet noch jüdische Perspektiven berücksichtigt. Der Antisemitismus bekam in dem Klassenzimmer eine Bühne. Bei einem anderen Vorfall wurde mehrfach ein Fortbewegungsmittel, auf dem die Worte „Israelis sind Mörder“ angebracht waren, vor einer jüdischen Einrichtung abgestellt.
Für den Tatort Straße wurden 84 Vorfälle von RIAS Hessen ab dem 7. Oktober bis zum Jahresende 2023 dokumentiert. Fast 60 Prozent der Vorfälle gehen auf die 50 von RIAS Hessen dokumentierten Demonstrationen und Kundgebungen seit dem 7. Oktober zurück, bei denen es zu antisemitischen Vorfällen kam. Hinzukommen insbesondere Schmierereien und Aufkleber, die antisemitische Inhalte in den öffentlichen Raum der Straße transportierten.
Am 6. November wurden an sechs Orten in einer hessischen Kleinstadt antisemitische Schmierereien angebracht. Es handelte sich dabei meistens um die Parole „Kindermörder Israel“. Die Parole geht auf die mittelalterliche Ritualmordlegende zurück, die Jüdinnen und Juden unterstellt, für Rituale Kinder zu ermorden. Mit der Umformulierung auf Israel wird nun Israel unterstellt, bewusst und mit Absicht Kinder zu töten.
Am 23. Dezember 2023 wurden RIAS Hessen mehrere Aufkleber gemeldet. Der Text lautete: „Nicht alle Juden sind Zionisten, aber alle Zionisten sind das Übel der Welt. Sie bringen Krieg und Unruhen. Erkenne den Feind!“
Bei den dokumentierten Demonstrationen und Kundgebungen kam es zu antisemitischen Redebeiträgen, es wurden Parolen skandiert oder auch Transparente und Plakate gezeigt. Ende Oktober 2023 wurde bei einer Demonstration eine Rede gehalten, in der Israel das Recht zur Selbstverteidigung abgesprochen wurde. Nur die Palästinenser, so der Redebeitrag weiter, hätten ein solches Recht auf Selbstverteidigung. Auf der gleichen Versammlung mit über 1000 Teilnehmenden wurde ein Plakat hochgehalten, auf dem zu lesen war: „Stop doing what Hitler did to you“. Auf einem anderen Plakat stand geschrieben: „Language is key. It´s not a war – It´s a (sic!) genoside; It´s not a conflict – It´s occupation; It´s not Terrorism – It´s fight to Resist”.