Jahresbericht RIAS Hessen

Ein Rückblick von Susanne Urban RIAS Hessen 2023

Alltag und Austausch

RIAS Hessen ist die zentrale Anlaufstelle für Betroffene und Zeuginnen und Zeugen antisemitischer Vorfälle in diesem Bundesland. Wir nehmen Meldungen per Mail, telefonisch oder über www.report-antisemitism.de an, kommunizieren mit den meldenden Personen und spüren oft, dass diese Menschen weitere Gespräche brauchen. Dafür gibt es vor allem unsere Kolleginnen von OFEK Hessen e.V. Dort erhalten Personen, die Antisemitismuserfahrungen machen, professionelle Hilfe; auch kann über OFEK e.V. juristische Hilfe vermittelt werden.

RIAS Hessen unterzeichnete 2023 eine Kooperation mit OFEK e.V. Wir wollen uns in unseren Aufgaben gegenseitig stärken und nehmen gemeinsam Termine wahr, z.B. bei Uwe Becker, dem Beauftragten der Hessischen Landesregierung für Jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus oder bei Christina Kreis, der Antisemitismusbeauftragten der hessischen Justiz.

Das enge Verhältnis zum Landesverband der Jüdischen Gemeinden Hessen und der Jüdischen Gemeinde Frankfurt sowie zum Sara Nussbaum Zentrum Kassel hat uns in verschiedensten Regionen Hessens verankert und bei den Gemeinden bekannt gemacht. Persönliche Kontakte in die Gemeinden sind darüber hinaus ein Garant für kurze Wege und unbürokratische Absprachen.

2022 war noch kein Datenabgleich mit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden möglich; für 2023 konnte dies erstmals geschehen. Es hat sich ein auf gegenseitigem Respekt aufbauendes Verhältnis herausgebildet; über die Leitung des Hessischen Informations- und Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) entstanden neue Kontakte und ein regelmäßiger vertrauensvoller Austausch, der die unterschiedlichen Arbeitsweisen und die damit einhergehenden Aktivitäten und Konzepte dem jeweiligen Gegenüber verständlich machte. Auch gab es einen Datenabgleich mit dem Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen zu antisemitischen Vorfällen an Schulen; alles immer unter höchstem Betroffenenschutz und anonymisiert.

Der Bundesverband RIAS e.V. /
die Bundesarbeitsgemeinschaft

Der Bundesverband RIAS e.V. stellte in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt Ende Februar 2023 unter Beteiligung von RIAS Hessen die Publikation „‘Das bringt einen in eine ganz isolierte Situation‘ – Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland 2017-2020“ vor.
Im September 2023 präsentierten sich der Bundesverband RIAS e.V., RIAS Hessen und die Meldestelle Antiziganismus Rheinland-Pfalz zusammen mit m*power und Betroffenen von Antisemitismus und Antiziganismus in Mainz im „Haus der Erinnerung“ der Öffentlichkeit.

Auf den drei Sitzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft 2023 und in engem Austausch mit dem Büro des Bundesverbandes RIAS wurden wichtige Fragen diskutiert, Konzepte weiterentwickelt und wir wissen, dass es bei Bedarf immer jemanden aus der „RIAS-Familie“ gibt, der oder die ansprechbar ist – auch im August 2023, als wir den ersten Jahresbericht von RIAS Hessen vorstellten.

Konferenzen und Veranstaltungen

RIAS Hessen nimmt an wissenschaftlichen Diskursen zu Antisemitismus teil und tauscht sich über die Bildungsarbeit über und gegen Antisemitismus aus. Entweder im Verbund mit Partnereinrichtungen, über Einladungen zu Vorträgen und Workshops oder wir bieten eigene Formate an. Dazu gehört die „Konzeptwerkstatt Antisemitismus“, in der sich ein wachsender Kreis von Menschen und Einrichtungen in einem nicht-öffentlichen Format zwei Mal jährlich trifft, um Fragen aus Bildung, Forschung und akuter Gegenwart zu diskutieren. Das andere Format sind die öffentlichen „Werkstattgespräche Antisemitismus“, die gemeinsam mit Kooperationspartner:innen organisiert werden.

Im Januar 2023 organisierte RIAS Hessen in Kooperation mit der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden einen Filmabend mit „Die vorletzte Freiheit“, einem Porträt Otto Dov Kulkas und seiner Philosophie der „Landschaften der Metropole des Todes“. Für den 23. November 2023 war ein Veranstaltungsformat geplant, das vom historischen Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens als „Urahn“ der RIAS-Stellen einen Bogen in die Gegenwart schlagen sollte, um Aktivitäten gegen Antisemitismus auf den Prüfstand zu stellen.

Nach dem 7. Oktober 2023

Am 7. Oktober morgens um halb sieben drangen Hamas-Terroristen nach Israel ein. Sie überfielen Kibbuzim und Häuser. Sie quälten und mordeten all jene Israelis, auf die sie trafen und die sie gezielt aufsuchten. Auf dem Musikfestival „Tribe of Nova“ folterten, vergewaltigten und ermordeten die Terroristen vor allem junge jüdische Frauen, aber auch junge jüdische Männer. Die Hamas verschleppte rund 250 Menschen nach Gaza. Wer von den Geiseln im November 2023 freigelassen wurde, ist schwer traumatisiert, wer in Israel überlebte, auch. Die Terroristen ermordeten und verschleppten auch arabische Israelis, Arbeiter aus anderen Ländern und Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit. Was geschah ab dem 7. Oktober 2023 in Hessen? In Frankfurt am Main versammelten sich noch am Abend dieses Tages rund 200 Personen zu einer Solidaritätsbekundung für Israel. Sie mussten erste Beleidigungen und Übergriffe erleben. Ab dem 8. Oktober 2023 kamen immer mehr Meldungen herein: von Studierenden, von Eltern eingeschüchterter Schüler und Schülerinnen, von Menschen, die antisemitische Schmierereien nicht einfach hinnahmen. Bedrohung, Gewalt, Othering: alles geschah, und es geschah überall.

Die jüdische Community in Hessen ist zutiefst betroffen von all dem. Jüdische Räume verengen sich, während es auf den Straßen brüllte: „Kindermörder Israel“ oder „Free Palestine from German Guilt“.

Die Kolleginnen und Kollegen der RIAS-Stellen waren nach dem 7. Oktober unablässig füreinander da.

Ohne das engagierte Monitoring freier Mitarbeitenden hätten wir die operative Arbeit nicht bewältigen können. Danke!

Zwei persönliche Anmerkungen

Am 8. Dezember 2023 stellte sich die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus Hessen (MIA Hessen) in Wiesbaden vor; RIAS Hessen wurde eingeladen, als „Schwester“ von MIA ein Grußwort zu sprechen. Mehmet Daimagüler, Antiziganismus-Beauftragter der Bundesregierung, sagte, in Zeiten, in denen die Demokratie bedroht sei, seien auch Sinti und Roma „existenziell bedroht – wir müssen in diesen Abgrund blicken“. In Richtung RIAS Hessen formulierte er: „In Zeiten wie diesen soll die jüdische Community infolge des rasant angestiegenen Antisemitismus nach dem 7.10. wissen: die Sinti- und Roma-Community ist solidarisch: Juden und Jüdinnen sind NICHT alleine.“ Danke für den Schulterschluss. MIA Hessen und RIAS Hessen haben 2024 bereits einen Kooperationsvertrag geschlossen.

Am 29. Dezember 2023 starb Otto Roboz-Romberg in Frankfurt am Main. Shoah-Überlebender aus Ungarn, Dissident im Kommunismus, aktiv im Ungarn-Aufstand 1956, Flüchtling in Österreich, Journalist in Deutschland. 1959/60, als die Synagoge in Köln beschmiert wurde und sich eine antisemitische Welle durch die Bundesrepublik wälzte, wollten er und seine Frau Vera gehen. Aber sie blieben und gründeten die Zeitschrift „TRIBÜNE“, mit der sie 50 Jahre gegen Antisemitismus und für pluralistisches jüdisches Leben anschrieben. 1994 bis 2004 war ich dort Mitarbeiterin. 2022, während eines Telefonats, sagte Otto: „Schau dich um, Susanne, es war vergeblich. Ich habe nichts bewirkt.“ Sein ungarisches R rollte noch immer, aber es rollte traurig. Ich hatte mir gewünscht, dass er aus einer besseren Welt gehen kann. Ottos Haltung und Unbeugsamkeit aber bleiben und sind eine stetige Ermutigung.

Susanne Urban © Privat

Susanne Urban
© Privat

Zum Schluss möchte ich meiner Kollegin, Leonie Nützl, danken. Ohne sie würde der Jahresbericht nicht zustande gekommen sein; außerdem schätze ich unsere Gespräche sehr – und ihre Arbeit sowieso.

Dr. Susanne Urban
(Projektleitung RIAS Hessen)