Jahresbericht RIAS Hessen
Arbeitsweise, Kategoriensystem und Datengrundlage
Antisemitische Vorfälle werden von RIAS Hessen im Austausch mit den Meldenden verifiziert und anschließend systematisch erfasst. Dieses Verfahren ermöglicht es, Aussagen über Erscheinungsformen, Vorkommen und Veränderungen von antisemitischen Vorfällen in Hessen zu treffen. RIAS Hessen dokumentiert antisemitische Vorfälle unabhängig davon, ob sie strafrechtlich relevant sind oder keine justiziablen Tatbestände erfüllen. Das Kategoriensystem, nach dem RIAS Hessen antisemitische Vorfälle erfasst, wird in der Bundesarbeitsgemeinschaft der RIAS-Stellen (BAG) festgelegt und von allen in der BAG organisierten RIAS-Meldestellen angewendet. Im Folgenden werden zentrale Kategorien und Grundsätze der Arbeitsweise von RIAS Hessen zur besseren Nachvollziehbarkeit vorgestellt.
Die Einordnung von antisemitischen Vorfällen orientiert sich an der „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA).https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus (letzter Zugriff: 30.01.2024). Diese wurde von RIAS-Berlin gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen aus Berlin für den deutschsprachigen Kontext spezifiziert und operationalisiert und in dieser Form auch von RIAS Hessen übernommen. Zudem orientiert sich RIAS Hessen an der „Arbeitsdefinition zur Leugnung und Verharmlosung des Holocaust“ die 2013 von der IHRA veröffentlich wurde.https://holocaustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-leugnung-verfalschung-des-holocaust (letzter Zugriff: 30.01.2024). Bei israelbezogenen Antisemitismus arbeitet RIAS Hessen zudem auf Basis des von Natan Sharansky vorgeschlagenen 3-D-Tests. Die drei D‘s stehen für Dämonisierung, Delegitimierung und Doppelstandards und beschreiben damit Aussagen über Israel, die, auch wenn sie als Kritik bezeichnet werden, israelbezogenen Antisemitismus transportieren.
RIAS Hessen ordnet antisemitische Vorfälle verschiedenen Kategorien zu. Das Kategoriensystem und die verwendeten Begriffe unterscheiden sich von den Kategorien und Begriffsdefinitionen der Strafverfolgungsbehörden. Die von RIAS Hessen genutzten Vorfallkategorien wurden vom britischen Community Security Trust (CST) übernommen und von RIAS Berlin für den deutschen Kontext angepasst. In der BAG stehen die regionalen Meldestellen im Austausch über die Auswertungsmethoden und arbeiten gemeinsam an der Weiterentwicklung der Kategorien und deren Anwendung. Durch diese Struktur verwenden bundesweit alle regionalen Meldestellen, so auch RIAS Hessen, dieselben Kategorien, wodurch Transparenz und Vergleichbarkeit untereinander hergestellt wird.
Die Erfahrungswerte des Community Security Trust (CST), der bereits seit 1984 antisemitische Vorfälle in Großbritannien dokumentiert, ergeben, dass eine Meldestelle erst etwa nach fünf Jahren eine ausreichende Bekanntheit und das notwendige Vertrauensverhältnis zur jüdischen Community erlangt hat, um einen repräsentativen Überblick zur Dimension des Antisemitismus erzielen zu können.
Vorfallarten
Extreme Gewalt
Als extreme Gewalt gelten (versuchte) physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder schwere Körperverletzungen darstellen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise auch Brandanschläge, Kidnapping, Messerangriffe und Schüsse.
Angriffe
Als Angriffe werden Vorfälle gewertet, bei denen Personen körperlich angegriffen werden, ohne dass dies lebensbedrohliche oder schwerwiegende körperliche Schädigungen nach sich zieht. Aufgenommen werden auch versuchte körperliche Angriffe.
Gezielte Sachbeschädigung
Als gezielte Sachbeschädigung wird die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums mit antisemitischen Symbolen, Plakaten oder Aufklebern verstanden. Dazu werden auch Beschädigungen oder Beschmutzungen von Erinnerungszeichen und -orten (z.B. Stolpersteine und Gedenktafeln) oder mit ihnen verbundene Institutionen gezählt.
Bedrohung
Als Bedrohung gilt jegliche eindeutige und direkt an eine Person oder Institution adressierte schriftliche oder mündliche Androhung von Gewalt.
Verletzendes Verhalten
Als verletzendes Verhalten werden sämtliche antisemitischen Aussagen oder Vorfälle gegen jüdische wie nichtjüdische Personen oder Institutionen kategorisiert, bspw. antisemitische Beschimpfungen. Dies schließt auch antisemitische Äußerungen und Inhalte im digitalen Raum ein, sofern diese direkt an eine Person oder Institution adressiert sind. Allgemeine Kommentare in den sozialen Medien werden nicht aufgenommen. Eingeschlossen sind auch antisemitisch motivierte Beschädigungen oder Schmierereien an nichtjüdischem oder israelischem Eigentum, sowie Schmierereien im öffentlichen Raum und antisemitische Äußerungen bei Versammlungen. Versammlungen wie Demonstrationen oder Kundgebungen werden, auch wenn beispielsweise mehrere antisemitische Plakate gezeigt oder Parolen gerufen werden, als ein Vorfall aufgenommen.
Massenzuschriften
Als Massenzuschriften werden antisemitische Zuschriften, die sich an einen größeren Kreis von Personen richten, dokumentiert.
Erscheinungsformen des Antisemitismus
Antijudaismus
Im antijudaistischen Antisemitismus werden religiös begründete Stereotype und Mythen artikuliert.
weiterlesenAntisemitisches Othering
Das Antisemitisches Othering bezeichnet Handlungen, Worte oder Bilder, deren Inhalt Jüdinnen und Juden als fremd, exotisch oder als nicht dazugehörend markieren.
weiterlesenIsraelbezogener Antisemitismus
Antisemitische Einstellungen werden auch auf den Staat Israel projiziert. Sobald sich Äußerungen zu der Politik Israels mit Ideologemen des Antisemitismus verbinden, sind sie der genannten Erscheinungsform zuzurechnen.
weiterlesenModerner Antisemitismus
Dem modernen Antisemitismus werden verschwörungstheoretische Zuschreibungen etwa von einer besonderen ökonomischen oder politischen Macht von Jüdinnen und Juden zugeordnet.
weiterlesenPost-Shoah-Antisemitismus
Der Post-Shoah-Antisemitismus ist ein Phänomen, bei dem Schuld- und Erinnerungsabwehrmechanismen eingesetzt werden, um die während der Shoah begangenen Verbrechen zu verharmlosen, zu relativieren oder zu leugnen.
weiterlesenPolitisch-weltanschauliche Tathintergründe
RIAS Hessen ordnet den Verursachern des antisemitischen Vorfalls einen politisch-weltanschaulichen Hintergrund zu, soweit ausreichend Informationen hierzu vorliegen. Die Zuordnung ergibt sich aus der Selbstbezeichnung der Personen oder Organisationen oder aus verwendeten antisemitischen Stereotypen, aus denen sich die Verortung zu einem bestimmten politischen Spektrum eindeutig ableiten lässt. Häufig können antisemitische Vorfälle auf Grundlage der Informationslage keinem politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugeordnet werden, von denen RIAS Hessen insgesamt sieben unterscheidet.
Antisemitische Vorfälle können als rechtsextrem oder rechtspopulistisch aufgenommen werden. Dabei fungiert Rechtsextremismus als Sammelbegriff für antimoderne, antidemokratische, antipluralistische und menschenrechtswidrige Einstellungen, Handlungen und Strömungen. Zu den gemeinsamen Merkmalen verschiedener rechtsextremer Ideologien gehören Ideen, die von einer grundlegenden Ungleichwertigkeit verschiedener Menschen oder Gruppen ausgehen, verbunden mit dem Wunsch, in ethnisch homogenen Gemeinschaften zu leben, sowie der Unterordnung des Einzelnen unter diese Gemeinschaft. Rechtspopulismus umfasst gemäßigtere Formen des Rechtsextremismus. Diese politische Ideologie bedient sich hierfür kulturell-religiöser und wirtschaftlicher Rechtfertigungen und ist im Gegensatz zum Rechtsextremismus nicht für die vollständige Abschaffung der parlamentarischen Demokratie. Vielmehr wird versucht, sie auf autoritäre Weise umzugestalten und zu unterwandern. Darüber hinaus ist der Rechtspopulismus auch eine spezifische Form der politischen Kommunikation und Mobilisierung, die eine klare Abgrenzung von „politischen Eliten“ für sich betont.
Als links oder antiimperialistisch werden antisemitische Vorfälle dokumentiert, die mit dem Vertreten linker Ideologien oder der Selbstverortung der Personen oder Gruppen in einer linken Tradition, verbunden mit einer binären Weltsicht und einer – häufig befreiungsnationalistischen oder auch postkolonial gefärbten – antiimperialistischen Kritik einhergehen.
Antisemitische Vorfälle werden als christlich oder christlich fundamentalistisch eingeordnet, wenn sie mit einer positiven Bezugnahme auf christliche (oder christlich fundamentalistische) Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und sofern kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Als islamisch oder islamistisch werden antisemitische Vorfälle registriert, die mit einer positiven Bezugnahme auf islamische Glaubensinhalte oder Symboliken verbunden sind und bei denen kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert. Dies umfasst unterschiedliche Islamverständnisse, darunter auch islamistische.
Antisemitische Vorfälle gelten als verschwörungsideologisch, wenn die Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Vordergrund steht und kein anderer politisch-weltanschaulicher Hintergrund dominiert.
Für den antiisraelischen Aktivismus gilt, dass sich die Akteurinnen und Akteure mitunter nicht eindeutig politisch zuordnen lassen und die israelfeindliche Motivation der verantwortlichen Personen oder Gruppen eindeutig dominiert. Zum antiisraelischen Aktivismus zählt RIAS beispielsweise säkulare palästinensische Gruppen sowie jene, die antisemitische Boykottkampagnen gegen den jüdischen Staat Israel unterstützen bzw. propagieren.
Der politischen Mitte zugeordnet werden antisemitische Vorfälle, wenn keinem der zuvor genannten politisch-weltanschaulichen Hintergründe zutrifft und gleichzeitig die Verantwortlichen für sich in Anspruch nehmen, demokratische Positionen zu vertreten.
Datengrundlage
Die meisten der 2023 von RIAS Hessen dokumentierten 528 antisemitischen Vorfälle gingen über die Meldemaske unter www.report-antisemitism.de oder per E-Mail an vasb@evnf-urffra.qr ein. Vereinzelt riefen Menschen auch direkt an.
RIAS Hessen konnte das Monitoring von Veranstaltungen 2023 breiter aufstellen und somit auch dort antisemitische Vorfälle verstärkt erfassen.
Das Monitoring von Social Media und Medien mit Blick auf die nach RIAS-Kriterien zu dokumentierenden Vorfällen wurde ebenfalls intensiviert.
Wichtig war für 2023 die institutionalisierte Form des Datenabgleichs mit Kooperationspartnern wie mit OFEK Hessen e.V., aber auch mit response. oder dem Jüdischen Museum Frankfurt. Darüber hinaus gab es anlassbezogene Gespräche mit jüdischen und nichtjüdischen Organisationen, um Vorfälle zeitnah gemeldet zu bekommen.
RIAS Hessen ist für die Erhebung und Dokumentation der Daten auf diese vertrauensvolle Zusammenarbeit und den Austausch mit Jüdischen Gemeinden und Institutionen angewiesen. Ihnen allen gebührt dafür Dank.
Nicht zuletzt konnte für 2023 ein Datenabgleich mit dem Hessischen Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen sowie mit dem Landeskriminalamt Hessen – intensiv begleitet vom Hessischen Informations- & Kompetenzzentrum gegen Extremismus – vorgenommen werden. Dies ist wertvoll, um gemeinsam das Dunkelfeld zu erhellen.
RIAS Hessen geht weiterhin von einer hohen Anzahl nicht gemeldeter antisemitischer Vorfälle aus. Diese Annahme beruht auf Gesprächen, Erkenntnissen über den Umgang mit solchen Erfahrungen und dem Wissen, dass vieles, was im Alltag geschieht, überhört und übersehen wird.