Fokuskapitel II
Antisemitische Vorfälle an Bildungseinrichtungen in Hessen 2023
2023 wurden 127 antisemitische Vorfälle an Bildungseinrichtungen wie Hochschulen, Schulen, Kitas, Museen und sonstigen Einrichtungen (bspw. der Jugendhilfe) in Hessen dokumentiert. Dies ist eine knappe Vervierfachung im Vergleich zu 2022, als RIAS Hessen 29 Vorfälle in Bildungseinrichtungen dokumentierte.
127 Vorfälle: Seit Jahren warnen Wissenschaftlerinnen und Forschende, Betroffene und auch manche Medien vor steigendem und sich verfestigendem Antisemitismus im Kulturbetrieb11 Kunst und Konformismus. Aktuelle Debatten über Antisemitismus im Kulturbetrieb, Institut für Neue Soziale Plastik e.V. 2023; Im Nacken. Antisemitismus in Kunst und Kultur, Institut für Neue Soziale Plastik e.V. 2023; Stella Leder (Hsg.): Über jeden Verdacht erhaben? Antisemitismus in Kunst und Kultur, Hentrich und Hentrich, Berlin 2021. 2 Julia Bernstein: Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Verlag Beltz Juventa, Weinheim 2020; Marina Chernivsky/Friederike Lorenz-Sinai: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von Lehrkräften, Verlag Beltz Juventa, Weinheim 2023; Schule als Spiegel der Gesellschaft. Antisemitismen erkennen und handeln, hrsg. von Julia Bernstein, Marc Grimm, Stefan Müller, Wochenschau-verlag, Frankfurt 2022. Veröffentlichungen und Hinweise auch: Kompetenzzentrums für antisemitismuskritische Bildung und Forschung (https://zwst-kompetenzzentrum.de/). 3 Antisemitismus bei BDS. Akteure – Aktionsformen – Wirkungen, hrsg. vom Bundesverband RIAS e.V., Berlin 2024; https://report-antisemitism.de/documents/2024-03-14_Antisemitismus-bei-BDS.pdf. 4 Dan Diner/Norbert Frei/Saul Friedländer/Sybille Steinbacher: Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkung zum neuen Streit über den Holocaust. C.H. Beck Verlag, München 2022; Steffen Klävers: Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung. De Gruyter, Berlin 2019; Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, Carl Hanser Verlag, München 2022; Andreas Stahl, Jakob Hoffmann, Marc Seul, Stephan Grigat (Hrsg.): Erinnern als höchste Form des Vergessens. Verbrecher Verlag, Berlin 2023. , an Hochschulen und Schulen.2
Die BDS-Bewegung ist ein Teil dieses in Universitäten, auf Bühnen und Festivals immer offener geäußerten Antisemitismus, der zunächst auf Israel abzielt.3 Mit und seit der documenta fifteen 2022 wurde israelbezogener Antisemitismus noch offener formuliert und im Rahmen postkolonialer Ideen und Bewegungen weithin propagiert.4 Der Staat Israel gerät somit immer mehr als „letztes koloniales Gebilde“ in den Fokus, und Israelis als „weiße Siedler“ werden zusehends zum Feindbild. Gemeint sind am Ende immer auch Jüdinnen und Juden.
Antisemitische Vorstellungen werden politisch breit mobilisiert und sind von Projektion, kognitiver wie moralischer Unnachgiebigkeit sowie Faktenresistenz geprägt.
Wissenschaftliche Erkenntnisse spiegeln sich somit in den Analysen der von RIAS Hessen dokumentierten Vorfälle und stützen damit wiederum die Wissenschaft. Meldungen jüdischer Betroffener zeigen, dass 2023 Universitäten in Hessen als Orte antisemitischer Ausgrenzung, des Otherings und der Angriffe wahrgenommen werden; sie erlebten wenig Solidarität. Israelsolidarische Positionen nichtjüdischer Personen führte ebenfalls zu Othering und Angriffen.
Universitäten: 51 Vorfälle
Für Mai 2023 wurde ein Anstieg von israelbezogenem Antisemitismus antizipiert; mit dem 75. Jahrestag der Staatsgründung Israels würde sich eine Gelegenheitsstruktur bieten, die aus den vergangenen Jahren bekannten antisemitischen Topoi fortzuführen und weiter zu verbreiten. Bereits ein Jahr zuvor, im Mai 2022, hatte es an der Universität Marburg großflächige antisemitische Schmierereien gegeben, auf denen es u.a. hieß: „Smash settler Zionism!“ Auf der documenta fifteen 2022 waren kurz vor deren Schließung im September 2022 massenhaft Plakate mit der Parole „Free Palestine from German guilt“ aufgetaucht. Flyer, die die Terrororganisation Hamas verherrlichten, wurden bereits im Dezember 2022 an der Universität Frankfurt verteilt.
Im Mai 2023, anlässlich des 75. Jahrestages der Staatsgründung Israels, kam es an hessischen Universitäten zu Veranstaltungen und Kundgebungen, die israelbezogenen Antisemitismus verbreiteten.
Am 15. Mai 2023 zog eine Gruppe über einen Campus und zeigte ein Banner mit der palästinensischen Terroristin Leila Khaled, die 1969 und 1970 an Flugzeugentführungen beteiligt war und Handlungen Israels mit der Shoah verglichen hatte. Zudem wurde ein Flugblatt verteilt, das inhaftierte Terroristen als Widerstandskämpfer bezeichnete. Nicht zuletzt wurde zur Intifada aufgerufen. Vergleiche zwischen der Politik des Staates Israel und der Shoah sind bekannte antisemitischer Topoi der Täter-Opfer-Umkehr.
Ab Mitte Mai 2023 wurden an einem Institut einer Universität, das sich mit dem geografischen Raum, in dem auch Israel existiert, befasst, eine Ausstellung gezeigt und Vorträge organisiert, die sich ausschließlich aus einem gegen Israel gerichteten Blickwinkel mit der „Nakba“ befassten. Israel wurde Apartheid und Siedlerkolonialismus mit dem Ziel der Eliminierung der „Eingeborenen“ sowie Landraub vorgeworfen. In einer Diskussion zu einem dieser Vorträge wurde die von Russland überfallene Ukraine mit Palästina gleichgesetzt und Waffenlieferungen an Palästina in gleichem Umfang wie an die Ukraine gefordert.
In Gesprächen mit Betroffenen und anhand von Meldungen stellte sich RIAS Hessen folgende Situation bereits vor dem 7. Oktober 2023 dar: die sich verengenden Räume für jüdische und israelsolidarische Studierende sowie jener, die sich gegen Antisemitismus einsetzen, waren hessische Hochschulen bereits vor dem 7. Oktober für die genannten Personengruppen in Teilen problematisch. Jüdische Themen und die Befassung mit Israel wurden entweder abgewehrt oder nicht zugelassen, jüdische Perspektiven in Frage gestellt und Antisemitismuserfahrungen nicht ernst genommen. Eine Konsequenz, die jüdische Studierende bereits ab Juli 2023 für sich zogen, war, hessische Universitäten zu verlassen und sich selbst zu exmatrikulieren.
Nach dem 7. Oktober 2023 wurde Antisemitismus an hessischen Universitäten offen gezeigt und ausgesprochen: auf Versammlungen und Kundgebungen, durch Störungen von Veranstaltungen und Angriffe gegen Studierende. Viele Täterinnen und Täter bilden hierbei die Anschlussfähigkeit des israelbezogenen Antisemitismus ab.
An Universitäten fielen linke/antiimperialistische Gruppen, Studierende, die sich „gegen Rechts“ positionieren, aber auch islamische/islamistische Milieus auf. Antiisraelischer Aktivismus bietet eine breite Anschlussfähigkeit.
In dieser Stimmung lebten jener Antisemitismus auf, wie er seit den 1970ern aus der Sowjetunion propagiert und verbreitet wurde. Es sind teils dieselben Parolen und Sprachbilder („Zionisten sind Faschisten“, „Intifada bis zum Sieg“) und eine vergleichbare Bildsprache mit Fäusten, Blut und Waffen, die Gewalt und „Revolution“ verherrlicht oder romantisiert. Plakate mit Fotos der nach Gaza verschleppten Israelis wurden teils mit Plakaten von linken/antiimperialistischen überklebt.
Am 1. November 2023 fanden sich in einem Institut einer Universität stapelweise Flugblätter mit terrorverherrlichendem und antisemitischem Inhalt zum 7. Oktober. Ein Flugblatt war in einem offiziellen Aushangkasten angebracht. Das Flugblatt wandte sich dagegen, dass die Hamas als „blutrünstige Terroristen“ dargestellt würden. „Der palästinensische Widerstand wird entmenschlicht (…). Wir stehen bedingungslos an der Seite des palästinensischen Widerstands. (…) Wir stehen (…) für ein freies Palästina vom Jordan bis zum Meer.“
Am 8. November 2023 wurde an einem Institut für Kunstgeschichte an einer Universität an einer Tür zu einem Seminarraum, in dem sich bereits Lehrende und Studierende befanden, ein Plakat entdeckt, das ein Foto zeigte: einen weißen Pick-Up-Truck mit johlenden Terroristen, der am 7. 10. durch Gaza fuhr und Shani Louk, eine junge deutsch-israelische Frau, zur Schau stellte. Sie liegt verdreht auf der Ladefläche. Heute wissen wir, dass die junge Frau wahrscheinlich schon tot war, als sie so durch Gaza paradiert wurde. Vor allem Männer umringten das Auto, bespuckten die Frau, zogen an ihren Haaren etc. Ganz oben stand quer auf diesem Plakat: „Stand with Palestine“.
Das Plakat muss den im Raum befindlichen Personen beim Betreten des Raumes aufgefallen sein.
Wir haben uns entschieden, das Plakat nicht abzubilden.
Am 9. November 2023 wurden auf einem Campus alle Plakate mit den von der Hamas verschleppten Israelis abgerissen. Als am selben Tag einige Plakate in einen abschließbaren Kasten eines Fachbereichs gehängt wurden, wurde die Glasfront zugeklebt, sodass weder die Gesichter noch die QR-Codes für weitere Informationen gesehen werden konnten. Die Aufkleber zeigten u.a. Parolen wie „Free Palestine“ oder „Gegen Siedlerkolonialismus“.
Am 21. November 2023 wurde an einer Skulptur auf einem Campus eine Kundgebung abgehalten. Israel wurde „Kindermord“ unterstellt; Israel und der Zionismus seien Faschismus, Zionisten die wahren Antisemiten. Es wurde „From the river to the sea…“ skandiert. Die Universität schritt nicht ein.
Am 22. November 2023 wurden in einer Unterführung nahe einer geisteswissenschaftlichen Fakultät mehr als 30 Plakate von nach Gaza verschleppten und misshandelten Israelis beschädigt, indem sich die Verursachenden die „Mühe“ machten, die Gesichter und Namen einzeln herauszukratzen. Damit wurden die Verschleppten komplett entmenschlicht. An Laternenpfählen wenige Meter weiter waren die Plakate in derselben Weise zerstört worden.
Am 29. November 2023 wurden auf einem Campus nahezu alle LGBTQ-Fahnen-Sticker mit Davidstern zerstört, indem auf ihnen jeweils einzeln der Davidstern herausgekratzt wurde. Die meisten Sticker befanden sich an Laternenpfosten und an Türen etc.
Am 10. Dezember 2023 veranstaltete eine linke/antiimperialistische Gruppe auf einem campusnahen Platz eine Demonstration, an der auch Akteure des islamischen/islamistischen Spektrums teilnahmen. Die rund 120 Teilnehmenden trugen verschiedene Plakate und Schilder, die Israel u.a. einen Genozid vorwarfen. Der antisemitische Gehalt dieser Kundgebung wurde deutlich, weil die Taliban-Flagge mit dem Glaubensbekenntnis sowie ein Hamas-Stirnband zu sehen waren. Ein Redner sagte auf Arabisch: „Es lebe der palästinensische Widerstand! Vom Fluss bis zum Meer werden wir Palästina befreien!“
Am 14. Dezember 2023 wurde auf einer außerordentlichen Hochschulleitungstagung einstimmig eine gemeinsame Resolution aller Hochschulen zum Antisemitismus in Folge der Terroranschläge der Hamas am 7. Oktober beschlossen.https://wissenschaft.hessen.de/presse/pressearchiv/an-hessischen-hochschulen-ist-kein-platz-fuer-antisemitismus-und-jede-form-von-diskriminierung Die Situation an den Hochschulen und für jüdische Studierende und solidarische Personen sowie das Engagement gegen Antisemitismus blieben trotz der Resolution sehr unterschiedlich.
Sonstige Bildungseinrichtungen: 20 Vorfälle
Die Vorfälle aus Museen, Jugendeinrichtungen und Kitas machen ein Viertel der Vorfälle aus. Hierbei sind 13 Vorfälle einem Jüdischen Museum zuzuordnen. Hier halten sich Vorfälle, die Post-Shoah-Antisemitismus und jene, die israelbezogenen Antisemitismus umfassen, die Waage. Schmierereien und verletzendes Verhalten sind hier dominant gewesen.
Fazit
In Bildungseinrichtungen, insbesondere Schulen und Universitäten, zeigt sich immer wieder eine offensichtliche Perspektivdivergenz auf Antisemitismus. Betroffenen schlagen Unverständnis oder mangelnde Empathie und nicht selten auch relativierende Skepsis entgegen. Bedarfe von Jüdinnen und Juden werden nicht gehört, oder auch bagatellisiert. Jüdische Perspektiven werden marginalisiert. Dies geschieht auch in Schulen und Hochschulen, durch Mitstudierende, Mitschülerinnen und Mitschüler, Lehrende und leitende Personen.
Jüdische Stimmen und Expertise zu Antisemitismus sind unverzichtbar, um jüdische Positionen sichtbar zu machen und diese Perspektiven auch langfristig in der Gesellschaft zu verankern. Hessen – Frankfurt am Main – wird in absehbarer Zukunft Standort der Jüdischen Akademie des Zentralrats der Juden in Deutschland sein. Die Jüdische Akademie wird für die Befassung mit jüdischen Perspektiven, antisemitismuskritischer Bildungsarbeit und Fragen zur Erinnerung an die Shoah und andere Aspekte jüdischer Geschichte sowie die Darstellung jüdischen Lebens ein wichtiger Akteur werden.